Die gelöschte Welt
dass man sich unhöflich vorkäme, wenn man auch nur einen Vorschlag äußerte. Als die Briten 1947 den Subkontinent verließen, brach, vor allem dank eines Kartells von Opiumhändlern, die ihre Erzeugnisse auf dem Wasserweg durch Addeh Katir transportieren wollten, eine kurze Phase der Unruhen aus. Die nachdrückliche Reaktion der Einheimischen an den Seen setzte diesem Projekt ein rasches Ende.
1966 gewährte jedoch die All Asian Investment and Progressive Banking Group im Rahmen der großen Entwicklungsinitiative, die in diesem Jahr begann und mittels des triumphierenden Kapitalismus die ganze Welt in großem Stil aus der Armut befreien sollte, Addeh Katir ein Darlehen. Es war ein höchst eigenartiges Darlehen, da es nie abgerufen wurde und das Land es nie in Anspruch nahm. Die Summe ruhte auf einem Konto und warf einen gewissen Zinsertrag ab. Seltsamerweise jedoch stieg die Summe der Schuldzinsen erheblich schneller an. Als das Darlehen im Jahre 1986 zurückgezahlt werden sollte, forderte die Bank zusätzlich zu der ursprünglichen großen Summe einige zig Millionen Dollar. Addeh Katir wurde zur Kasse gebeten. Der Maharadscha wies darauf hin, dass er nicht um ein Darlehen gebeten hatte, auch kein Darlehen brauche, mit niemandem einen Vertrag geschlossen und das Geld nie in Anspruch genommen habe. Die All Asian Investment & Progressive Banking Group erwiderte, sein Argument scheine zwar auf den ersten Blick plausibel, die Situation liege jedoch ipso facto ein wenig anders, denn hier gehe es um äußerst komplizierte wirtschaftliche Zusammenhänge, die zudem mittels alltäglicher Vernunft nicht immer zu fassen seien. Der Staat Addeh Katir habe nämlich bereits aus der stillschweigenden Unterstellung investierender Firmen, das Darlehen könne jederzeit in Anspruch genommen werden, Profit geschlagen. Der Maharadscha erwiderte, keine Firma habe in Addeh Katir investiert, und es seien auch keine Firmen dazu aufgefordert worden. Addeh Katir gehe es gut so, wie es sei, und vielen Dank auch. Die All Asian Investment & Progressive Banking Group reagierte ungehalten und forderte den Maharadscha auf, endlich zu zahlen. Der Maharadscha erklärte der All Asian Investment & Progressive Banking Group, sie könne sich ihre Aufforderung ins Ohr stecken. Die All Asian Investment & Progressive Banking Group machte die Angehörigen des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses auf die inzwischen offenkundige Wahrheit aufmerksam: Der Maharadscha sei ein Kryptokommunist.
Während eines extrem teuren und gut organisierten Aufstandes mit fragwürdiger Legitimation wurde der Maharadscha gestürzt und durch einen gewissen Erwin Mohander Kumar ersetzt, einen anglo-indischen Einwanderer, ehemaligen Drogenschmuggler und registrierten Syphiliskranken, der unter dem Banner der Interimsregierung den Auftrag bekam, Addeh Katir wirtschaftlich auf Kurs zu bringen. Er unterzeichnete sofort ein Dokument, mit dem sich seine Nation verpflichtete, die Schulden zu begleichen, und gewährte sich anschließend selbst gewisse herrschaftliche Vorrechte hinsichtlich der ortsansässigen Frauen. Addeh Katir versank im Bürgerkrieg, aber wenigstens bestand nun keine Gefahr mehr, dass es den Kommunisten in die Hände fallen könnte.
Infolge dieser traurigen Entwicklung kommt also im neuen Semester das Addeh-Katir-Problem zur Sprache. Erwin Kumars Plünderungen haben eine Widerstandsbewegung auf den Plan gerufen. Die Seen von Addeh beherbergen jetzt eine Art Freibeuter namens Zaher Bey. Angeblich ist das ein gigantischer Krieger, ein militarisierter Gandhi, der zum Herrscher der Inseln und einer Nation von Piratenrevolutionären ausgerufen wurde. Dieser Koloss, der nur die traditionelle Seemannshose trägt und in jeder mächtigen Faust eine große Machete hält, bestreitet energisch alle katirischen Schulden und übt auf die weibliche Bevölkerung Addeh Katirs und der umgebenden Länder eine enorme sexuelle Faszination aus. In einem Bollywoodfilm wird ein heiratsfähiges Mädchen dargestellt, das in Zaher Beys schreckliche Klauen gerät und ihn (mithilfe von Tanzeinlagen, flotten Liebesliedern und züchtigen Blicken) zähmt, bis aus dem Monster der ideale Gatte wird. Es ist eine verrückte Kombination von Die Schöne und das Biest und My Fair Lady. Der gewagte Subtext aber lautet, dass der Bey im Bett ein richtig wilder Feger sei. Eine der Darbietungen wurde denn auch als zu prickelnd für den Hausgebrauch bewertet, worauf sie in Eigeninitiative von der rasch
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