Die gelöschte Welt
isst Apfelkuchen mit Zimt, den ihm Elisabeth in einer Tupperdose geschickt hat. Meister Wu ist von Tupperdosen fasziniert. Diese vielen verschiedenen Behälter, diese praktischen Wunder, die man mehrmals benutzen kann, die versiegelbaren Plastikboxen, das gefällt ihm. Diese Box gehört zu einer neuen Sorte und hat kleine Laschen an den Seiten, die sich herunterklappen lassen, damit sie luftdicht schließt. Er hält die Box locker in einer Hand hebt den Verschluss – klack – und drückt ihn wieder hinunter – klickklack. An jeder Seite gibt es zwei Arretierungen, die sich gleichzeitig öffnen, obwohl man sie einzeln schließen muss. Klack-klickklack. Das Plastik ist kühl, aber immer noch geschmeidig oder elastisch (dieser Teil meines Bewusstseins hat keinen vollen Zugriff auf meine Ausbildung und weiß nicht genau, welches Wort richtig ist). Jedenfalls lässt sich die Box weit genug verbiegen, damit auch alte Finger sie öffnen können, ohne sich die Fingernägel abzubrechen oder die Haut abzuschürfen. Klack – klickklack. Der Apfelkuchen ist hervorragend. Frisch und süß, mit feuchten Apfelstückchen und halb verflüssigtem Apfel. Das bekommt man nur hin, wenn man so einen Kuchen genau auf die richtige Art backt. Es sind nicht diese Übelkeit erregenden Stücke des Kerngehäuses, die manche Köche vermutlich aus falsch verstandener Sparsamkeit als wichtigen Bestandteil des Apfels verkaufen. Diese Stücke zerstören den perfekten Bissen und beeinträchtigen deshalb den Genuss des ohnehin schon seltenen Apfelkuchens. Elisabeth dagegen ist eine Apfelkuchenperfektionistin. Klack … klickklack. Meister Wus Finger folgen der eleganten Krümmung der Tupperware-Box. Sie ist recht groß. Dieses Modell hat, wie er weiß, zwei getrennte Kammern, in denen man unterschiedliche, aber zusammengehörige Lebensmittel lagern kann. Man könnte beispielsweise zwei Portionen Hühnchen, zwei Portionen Reis oder zweimal Gemüse mit Austernsoße einlagern. Austernsoße mag er eigentlich gar nicht. Sie schmeckt immer zu sehr nach Austern. Klick … klickklack. Der Deckel der Box ist ein glattes Viereck mit Stummelflügeln. Oben ist er mit Wölbungen oder Rippen verstärkt, die zusammen mit dem Deckel in einem Stück gegossen wurden. Er ist nicht schwer, aber stabil. Der Boden ist nachgiebiger, damit er kleine Stöße und Erschütterungen abfangen kann und vielleicht auch, damit er Lebensmittel und Flüssigkeiten verträgt, die sich beim Abkühlen zusammenziehen. Das Plastik ist zudem widerstandsfähig gegenüber Schnitten und verschließt selbsttätig die kleinen Risse und Narben, die entstehen, wenn jemand einen Kuchen in der Box schneidet – was Meister Wu aber nie tun würde. Klack … klickklack … plink.
Meister Wu rührt sich nicht. Er spannt sich nicht an. Äußerlich wirkt er genau so wie vor einem Augenblick, und doch ist alles anders. Das Plink war etwas Ungewöhnliches. Es hat eine tiefe Bedeutung und führt zu Konsequenzen, als würde ein irres Dominospiel in einem Mietshaus auf mehrere Stockwerke übergreifen. Das Geräusch kam von der äußersten linken Glocke in der mittleren Reihe. Es bedeutet, dass auf das mittlere Fenster ein kleiner Druck ausgeübt wurde. Die Tatsache, dass nur eine Glocke angeschlagen wurde, bedeutet, dass es ein sehr, sehr leichter Druck war, der schon wieder aufgehört hat. Als wäre ein Schmetterling gegen das Fenster geprallt. Zu dieser Nachtzeit wäre es natürlich eher eine Motte gewesen. Klack … klickklack. Nun gut. Die Motte ist verschwunden. Aber … plink. Ein etwas schwergewichtiger Freund, vielleicht eine männliche Motte, die ihr Mädchen jagt. Und … plink-plink … die Mädchenmotte ist ein munteres Ding und lässt ihn durchs ganze Haus hetzen bis hinüber zum … plink … zum linken Fenster.
Meister Wu sitzt im Schaukelstuhl. Er ist ein alter Mann. Er hat eine Menge Kuchen gegessen, etwas Tee getrunken und eine halbe Stunde mit der Tupperware-Box gespielt. Wenn die Glocken nicht wegen zwei liebestollen Motten geklingelt haben – wenn, zum Beispiel, irgendjemand die Absicht hat, in das Haus einzudringen und ihn zu ermorden –, dann muss der ungebetene Gast bemerkt haben, dass Meister Wu völlig erschöpft ist. Ein harmloser alter Knacker, der allmählich einschläft, eingelullt von seinem eigenen Gefummel und dem sanften Schaukeln des Stuhls. Vielleicht hat er diesen kostbaren Moment gewählt, um in Kindheitserinnerungen zu schwelgen. Er schließt die Augen, aber nicht
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