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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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wachsenden Internetgemeinde und über das Turnschuhnetzwerk Südostasiens verbreitet wurde. Der Zaher Bey dieser schillernden Darstellungen erwähnt weder Wahlen noch eine verantwortliche demokratische Regierung, ist aber ganz sicher kein kranker Irrer oder gar (im Gegensatz zu dem, was nach und nach über Erwin Kumar bekannt wird) ein Fußfetischist. Die in den Lehrsälen von Jarndice diskutierte Frage – wo offensichtlich an jeder Ecke getarnte Talentsucher lauern, die redegewandte Studenten überstürzt auf die Bühne der Weltpolitik entführen wollen – ist die, ob der geheimnisvolle Zaher Bey als Freund der ganzen Menschheit gelobt oder als Terrorist geschmäht werden sollte.
    Beth ist leider der Ansicht, Letzteres treffe zu, während ich zu Ersterem neige. Unser Date wird ein Fiasko. Sie lässt mich am Tisch sitzen, wo ich mit einem stattlichen Drittsemester namens Dhugal – mit »h« – reden kann.
     
    Wütend und behaart, mit billigen Cowboystiefeln und rotschwarz kariertem Arbeitshemd bekleidet, bin ich der Inbegriff moderner enttäuschter Jugend. Nach und nach verkörpere ich das ganze Spektrum der Unzufriedenheit, aber keine Farbe bringt mich wirklich weiter. Ich trage eine Baseballmütze, tief sitzende Jeans und verhöhne die Streber. Ich trage hautenge schwarze Plastikhosen, male mich kreideweiß an (der Trick ist, die Wangen vorher grünblau zu färben, damit nicht zu viel natürliche Farbe durchscheint und die jugendliche Gesundheit nicht die Keats'sche Bleichheit ruiniert), hocke finster hinten in der Bar und trauere über Byrons Tod. Von dort aus entdecke ich den Punk und habe vorübergehend überhaupt keine Haare, bis mich eine Besuchergruppe australischer Geschäftsleute für einen Faschisten hält, meine Tapferkeit lobt und auf meine Gesundheit anstößt. Nach diesem Schrecken lasse ich mir die Haare rasch wieder wachsen. Dann werde ich vorübergehend ein Yuppie, zürne der ganzen Welt und verdamme meine eigene Generation und ihr lächerliches Ringen um diesen verdorbenen Planeten. Schließlich entdecke ich die Radikalität sexueller Aktivitäten. Meine Mitrevolutionärin heißt Aline.
    Aline hat wirres Haar und unglaubliche Lippen; Aline hat eine römische Nase und die Finger eines italienischen Küchenchefs; Aline hat erstaunlich laute Orgasmen. Sie treibt mich nach einem Seminar in die Ecke und verlangt von mir, ich müsse meine schlecht durchdachten und altmodischen Ansichten näher erläutern. Sie presst mich an die Wand und stemmt links und rechts von mir die Hände dagegen, sodass ich nicht fliehen kann. Dann deckt sie mich mit belegten und überprüfbaren Gegenargumenten ein, und als ich stotternd meine verletzte Männlichkeit verteidigen will, beugt sie sich näher zu mir, öffnet die Lippen und bringt mich mit einem fabelhaften und ausnehmend erotischen Kuss zum Schweigen. Ihr Mund schmeckt nach Kaffee, Zigaretten und Kaugummi, und sie hat das alles (die Politik wie den Kuss) viel besser durchdacht als ich. Allerdings bin ich noch gut genug bei Verstand, um sie meinerseits in die Arme zu nehmen und die ganze Sache somit zu meiner Entscheidung zu machen, soweit das noch möglich ist. Eine Illusion, die sie mir gern lässt. Als wir wieder Luft holen, ist es Zeit zum Abendessen. Sie kennt das richtige Lokal, einen sehr eigenwilligen Club zwischen einer Bank und einem Postamt, im Grunde ist es nur ein schmaler Gang mit Tischen, hinten eine verräucherte Bar. Das Lokal heißt Caucus (bestimmte und unbestimmte Artikel sind ein Anzeichen für das bourgeoise Bedürfnis, das bevorzugte Lokal von einem anderen zu unterscheiden, das dem Lumpenproletariat zugänglich ist). So entgeht Caucus – von eingeweihten guten Freunden auch Cork genannt – diesem Schicksal (in der Tat kann der gelegentliche unabsichtliche und wiederholte Gebrauch von Artikeln Anlass für eine vorübergehende Verbannung oder Buße sein) und hält sich als alte, respektable Bastion radikaler Ansichten. Ich esse monatelang im Cork, Aline füttert mich mit sexueller Ekstase und politischer Agonie. So werde ich, wenn schon nicht ein Mann, dann doch wenigstens ein brauchbares Faksimile. Mein Gang ist federnd und großspurig, ich werde mit den Stammgästen warm, und nach einer Weile verstehe ich sogar, worüber sie reden.
    Die Bevölkerung des Cork trägt Namen wie Iggy, Quippe und Brahae – nicht etwa, weil ihre Mütter sie so benannt haben, sondern kraft eigener Entscheidung – und bevorzugt schwarze Jeans und Lederwesten.

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