Die gelöschte Welt
Glied in der Kette. Ohne ihn können seine Feinde den Stummen Drachen einfach nicht finden. Ohne ihn wäre der Drache nicht nur stumm, sondern auch unsichtbar. Wenn ein Ninja an einen unsichtbaren Gegner denkt, verspürt er zwischen den Schulterblättern ein Kribbeln. Es wäre interessant zu sehen, wie es ihnen ergeht, wenn sie die Orientierung verlieren. An diesem Punkt trifft er eine Entscheidung.
Drei Männer greifen ihn jetzt an. Sie bewegen sich nicht völlig synchron, was es schwieriger macht, dem Angriff zu begegnen. Und nebenbei zeigen sie damit auch, dass sie gut sind. Es ist schwer, sich auf den Rhythmus dieser Gegner einzustimmen. Meister Wu tritt vor, um einen Angreifer abzuwehren, gleitet durch den Raum, den ein anderer gerade einnehmen will, und schleudert den zweiten Mann gegen den ersten. Beide taumeln zum Kamin, ihre Kleidung fängt Feuer. Der dritte Mann zögert, dann bricht er ab, um sie aus den Flammen zu ziehen. Meister Wu ergreift die Gelegenheit, den Schnapsschrank zu öffnen und zwei Flaschen herauszunehmen. Er zerschlägt sie über seinem Kopf, stellt auf diese Weise zwei äußerst unangenehme Waffen her und tränkt sich selbst mit Alkohol. Dann tritt er zur Seite und lässt einen weiteren Feind den Schrank zerstören und noch mehr Flaschen zerbrechen, anschließend läuft er durch den Raum und hinterlässt dabei eine Spur. Er duckt sich und taucht weg, schneidet und sticht, seine Arme wirbeln wild um seinen Körper. Als er am Kamin vorbeikommt, geht er langsamer und kippt Schnaps in die Flammen. Einen Augenblick später erfasst das Feuer seine Füße und folgt ihm, als er weiter durch den Raum läuft. Die Vorhänge fangen Feuer, die bemalten Wände qualmen. Die Ninjas verfolgen ihn, die Klingen sausen knapp hinter seinem Rücken und über seinem Kopf vorbei. Schwere Hände greifen nach ihm und trampelnde Füße donnern über den Boden, wo er schon nicht mehr steht. Sie können ihn nicht berühren. Wu Shenyang ist aus Wasser gemacht.
Mitten im Chaos tritt dann ein Augenblick vollkommener Stille ein, in dem alle Aktionen und Reaktionen ins Gleichgewicht geraten. Meister Wu lächelt, greift in die Flammen und fängt Feuer. Er lächelt, als er sich an die verbliebenen Ninjas wendet, in jeder Hand rasiermesserscharfes Glas, die brennenden Arme weit ausgebreitet. Keiner wird diesen Anblick für den Rest seines Lebens vergessen. In den stillen Augenblicken und in den kalten, ehrlichen Stunden der Nacht und immer, wenn sie Tupperdosen sehen, werden sie an ihn denken. Sie werden sich an den schrecklichen alten Mann mit den milden Augen erinnern, der geschwind auf sie zulief, während seine Haut Blasen warf und sein Haar knisternd verbrannte. Er näherte sich ihnen, während sie zurückwichen. Sie werden sich erinnern, dass er sie aus seinem Haus vertrieb und nach draußen in die Nacht scheuchte, dass er ihnen folgte und sie in Schach hielt, bis das Haus und sein ganzer Inhalt hoffnungslos verbrannt waren, bis er endlich auf die Knie sank, um friedlich zu sterben, während sie in den Schatten lauerten. Sie werden diesen Augenblick, in dem sie lernten, was Angst ist, nie vergessen.
Meister Wus Beerdigung ist eine überraschend große Veranstaltung. Offenbar kannte er fast jeden in Cricklewood Cove. Jeder Geschäftsmann, jede Familie und alle Lehrer der Soames School, alle Bewohner der Strandhäuser und Ferienhäuser, sie alle kommen, um ihm das letzte Geleit zu geben. Die Leute haben Kuchen und Tee dabei, und wir stehen da und heben die Mitbringsel zum Gruß – ich hatte keine Ahnung, dass er so viele Leute kannte, und mache Elisabeth gegenüber eine entsprechende Bemerkung.
»Ich habe sie eingeladen«, erwidert sie. »Die Tradition gebietet, viele Gäste zu haben. Leider gelang es mir nicht …« Dann presst sie die Lippen zusammen und ballt die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Ich weiß, was sie nicht aussprechen kann. Auch ich bin enttäuscht. Die Leute, die wir trotz großer Anstrengungen nicht finden konnten, waren Meister Wus andere Schüler. In allen Städten und auf allen Kontinenten ist der Stumme Drache verschwunden – verpufft wie eine Dampfwolke. Vielleicht schämen sie sich auch nur, weil sie ihn im Stich gelassen haben, und lassen sich verleugnen, wenn wir anrufen.
In dieser Menschenmenge gehen Yumei und Ophelia fast unter. Einfach nur zwei Gäste auf der großen, kunterbunten Beerdigungsfeier eines alten Mannes. Die Urne ist sehr klein, deshalb bleibt unklar, wer sie
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