Die gelöschte Welt
Sie streiten jederzeit über fast alles, aber vor allem über das Global Open Market Agreement (was nicht sehr aufregend ist) und die Eurasian Economic Partnership (was noch weniger aufregend ist), weil diese unaufregenden Dinge bestimmen, wer reich und wer arm ist, wer verhungert und wer überlebt, was insgesamt schon wieder viel interessanter klingt.
»GOMA wird fallen«, erklärt Aline eines Nachmittags, »weil es nur dank ständiger Korrekturen durch die Regierungen funktioniert. Das ist keine unsichtbare Hand, sondern eine gläserne Faust, die früher oder später bersten wird, und dann löst sich die ganze Illusion in Wohlgefallen …« Sie will vermutlich »auf« sagen, kommt aber nicht mehr dazu, weil Quippe, der dick ist und beim Kartenspielen betrügt, die pummeligen Hände hebt und ruft, sie sei nicht bei Trost, denn GOMA sei perfekt ausbalanciert, ein durch und durch moralisches Unterfangen und nur durch eine hochkomplizierte revolutionäre Operation zu entfernen.
»Blödsinn«, meint Sebastian, und dann herrscht Schweigen. Sebastian äußert sich nicht zu Belanglosigkeiten. Wie Aline hat er etwas Italienisches an sich, und wie sie hat auch er eine Zeit in der Studentenbrigade gedient. Unterdrückerische Polizisten haben ihn wiederholt geschlagen, und einmal hat er in Amsterdam eine Barrikade angezündet. Sebastian kann von Sokrates über Lenin bis Michael Moore eine ganze Reihe von Revolutionären zitieren und kennt Zahlen, die jede mögliche Behauptung unterstützen, die man aufstellen kann. Er weiß, wie stark der Meeresspiegel schon gestiegen ist und welche Staaten besonders gefährdet sind. Er kennt die atmosphärischen Vorhersagen für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre und sogar bis zum Ende des Jahrhunderts. Er kennt das Bruttosozialprodukt von Uganda und auch den Anteil des Drogenhandels und der Prostitution an der Weltwirtschaft. Er weiß das alles oder kann es jedenfalls so schnell und unüberprüfbar erfinden, dass es sowieso keine Rolle spielt, ob es der Wahrheit entspricht.
»Revolution«, sagt Sebastian, als müssten wir das längst wissen, »ist eine Reaktion. Sie ist ein Muskelkrampf im Körper der Politik. Habt ihr schon einmal einen epileptischen Anfall gesehen?«
Niemand erwähnt den Laienkanzler Idlewild, aber sein schuppiger Kopf erscheint uns als eine kollektive Halluzination.
»Also«, sagt Sebastian, »würdet ihr diesen Augenblick wählen, um den Patienten nach seinem Steuersatz zu befragen? Oder würdet ihr ihm euer neugeborenes Kind in die Arme legen? Nein? Aber warum, um alles in der Welt, glaubt ihr, eine Revolution sei der richtige Augenblick, um eine bessere Lebensweise einzuführen?« Er verdreht die Augen, was den Blick aller Anwesenden auf die schmale, hinreißende Narbe lenkt, die seine sonst makellose Stirn ziert – das Andenken an einen niederländischen Polizisten aus einer Sondereinheit, mit dem Sebastian später Freundschaft schloss.
»Die Frage ist nicht, wer, sondern was die Macht hat. Das Problem ist, dass die Menschen angehalten sind, wie Maschinen zu funktionieren. Oder genauer wie Mechanismen. Menschliche Gefühle und Mitgefühl sind unprofessionell. Sie sind nicht angemessen, wenn man Vernunft walten lassen will. Alles, was die Menschen gut macht – was sie zu Menschen macht – wird ausgegliedert. Das System schert sich nicht um Leute, aber wir behandeln es, als sei es einer von uns, als wäre es die Summe unserer guten Absichten und nicht das Produkt unserer schändlichen Kompromisse. Die einzige Revolution, auf die es ankommt«, schließt Sebastian, »ist diejenige, bei der wir aufstehen und die Dinge selbst in die Hand nehmen.«
Als niemand etwas darauf sagt, zuckt Sebastian mit den Achseln und wendet sich wieder seiner Zeitschrift und seinem Wodka Tonic zu. Aline greift den Gesprächsfaden auf und rennt zur Torlinie. Quippe und die anderen sind noch über die Idee verwundert, dass eine Revolution etwas Schlechtes sein könne, und sie erzielt den Punkt: »… deshalb sind die Produktionsmittel [Zitat, Fundstelle] teleologisch auf eine Durchdringung der Gesellschaft ausgerichtet [Zitat, Fundstelle], was zwangsläufig in einem ungeheuren Ausmaß und auf vielen Gebieten zu Ungerechtigkeiten führt!« Alle nicken. Aline sieht mich an und leckt sich die Lippen, weil politische Diskussionen bei ihr unweigerlich in eine ganz bestimmte Richtung führen. Wir verabschieden uns und gehen in mein Apartment. Die Gesellschaft mag teleologisch auf eine
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