Die geprügelte Generation
kleckerte, »hatte ich ein Ding weg. Wenn ich etwas umstieß, versohlte er mir den Hintern. Ich wagte kaum noch, mein Milchglas zu berühren. Vor lauter Angst passierte mir dann bei fast jedem Essen irgendein Unglück.« Ihr Vater vertrat offensiv den Standpunkt: Ordnung sei das Wichtigste im Leben. Dieser Prämisse musste sich Christiane F. um jeden Preis zu jeder Tageszeit unterordnen. Wenn er nachts beim Nach-Hause-Kommen auf Unordnung stieß, zerrte er sie gnadenlos aus dem Bett und schlug zunächst auf sie ein. Danach kam ihre kleine Schwester dran, die »bekam anschließend auch noch etwas ab. Dann warf mein Vater unsere Sachen auf den Fußboden und befahl, in fünf Minuten wieder alles ordentlichaufzuräumen. Das schafften wir meistens nicht und bekamen noch mal Kloppe.«
Trotzdem, so gesteht die damals drogensüchtige Christiane im Gespräch mit Alice Miller, »liebte und achtete ich meinen Vater irgendwie. Ich dachte, er sei anderen Vätern haushoch überlegen. Aber vor allem hatte ich Angst vor ihm. Dabei fand ich es ziemlich normal, dass er so oft um sich schlug. Bei anderen Kindern in der Gropiusstadt war es zu Hause nicht anders. Die hatten sogar manchmal richtige Veilchen im Gesicht und ihre Mütter auch.« An manchen Tagen ging es in den Familien der Nachbarschaft so hoch her, dass in ihrer Straße auch Möbelstücke aus den Hochhäusern heruntergeschmissen wurden, Frauen um Hilfe schrien und die Polizei kam. »So schlimm war es bei uns also nicht.«
Laut Alice Miller fing Christiane F. schließlich an, sich so zu benehmen, dass ihr Vater einen guten Grund zum Prügeln bekam. »Auf diese Art wertet sie ihn auf, sie macht aus dem ungerechten und unberechenbaren Vater wenigstens einen gerecht strafenden«, interpretierte die Psychoanalytikerin Christianes Verhalten. »Christiane hat früh lernen müssen«, so Alice Miller, »dass Liebe und Anerkennung nur mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Regungen und Gefühle (wie Hass, Ekel, Widerwille) zu erkaufen ist, also um den Preis der Selbstaufgabe. Das ganze Bestreben geht nun dahin, diese Selbstaufgabe zu erreichen«. Cool zu sein, cool zu bleiben. Dazu brauchte Christiane Drogen. So, wie die Eltern früher »mit Hilfe des Schlagens die Gefühle des Kindes nach ihren Bedürfnissen erfolgreich unter Kontrolle bekamen, so versucht jetzt das zwölfjährige Mädchen, ihre Stimmungen mit Hilfe von Drogen zu manipulieren.«
Eine Unicef-Studie über Gewalt gegen Kinder aus dem Jahr 2009 46 bestätigt Alice Millers Rückschlüsse aus Christiane F.s Kindheitserfahrungen. Demnach neigen betroffene Kinder später häufig zu Risikoverhalten wie Alkohol- und Drogenkonsum oder suchen frühzeitig sexuelle Beziehungen. Probleme wie Angst, Depression, Wahnvorstellungen, mangelnde Leistungsfähigkeitin der Schule und später im Beruf, Gedächtnisstörungen und aggressive Verhaltensweisen können die Folgen sein. Untersuchungen belegen Zusammenhänge mit späteren Lungen-, Herz- und Lebererkrankungen, Geschlechtskrankheiten, Totgeburten, gewalttätigen Beziehungen und Selbstmordversuchen. Für die USA wurden die finanziellen Auswirkungen von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigung einschließlich Einkommensausfällen und Gesundheitskosten im Jahr 2001 laut Unicef auf 94 Milliarden Dollar geschätzt.
Spätestens seit Alice Miller 1983 in ihrem Buch »Das Drama des begabten Kindes« beschrieb, welche schweren Schäden Misshandlungen von Kindern hervorrufen können, weiß man um die Auswirkungen solch drastischer Erziehungsmaßnahmen. Im Vorwort ihres Buches »Am Anfang war Erziehung« beklagte die 2010 verstorbene Therapeutin, das Bewusstsein der Öffentlichkeit sei »indessen noch weit von der Erkenntnis entfernt, dass das, was dem Kind in den ersten Lebensjahren passiert, unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurückschlägt, dass Psychosen, Drogensucht, Kriminalität ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen sind.«
Die dunklen Seiten des Lebens
Arne Hofmann weiß aus seiner Praxis, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt erfuhren, die in dunklen Räumen sich selbst überlassen wurden, die niemand tröstete, später häufig depressiv werden. Weil sie damals regelrecht »gebrochen wurden«, so Hofmann. Dies führt seiner Erfahrung nach dazu, dass sie als Erwachsene »ihr Potential nicht voll ausleben können«. Die merken, dass sie schüchterner und scheuer sind als andere. »Sie verhalten sich so, als würden sie immer noch befürchten,
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