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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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beengten finanziellen Verhältnissen lebe. Das Gericht hatte Verständnis und entließ sie aus der Verpflichtung, den minderjährigen Sohn während der Hauptverhandlung zu unterstützen. Die Richter wussten längst aus den Akten, dass diese Mutter mit diesem Kind nie viel hatte anfangen können. »Hätte ich den Klumpen doch nicht geboren«, hatte sie einmal einen Antrag auf Erziehungshilfe für den achtjährigen Christian kommentiert, wie aus dem entsprechenden Aktenvermerk einer Sozialarbeiterin hervorgeht.
    Den Werdegang von Christian R. interpretierte der damalige Leiter der Essener Kinder- und Jugendpsychiatrie, Christian Eggers, geradezu als Musterbeispiel für den Weg hin zum rassistischen Menschenhasser. Die Vorgeschichte hierzu ließ sich auf einen einfachen Nenner bringen: R. war als Kind so unglücklich, so verlassen und misshandelt, dass er die spielenden Kinder der im Haus schräg gegenüber lebenden türkischen Familie Genc schlichtweg nicht ertragen konnte. Die unbeschwerten Sprösslinge dieser Familie, die in jener Nacht zum 29. Mai 1993 verbrannten, führten ihm vor Augen, was ihm als Kind vorenthalten worden war. Und so, wie er es bei Katzen und Kaninchen geübt hatte, mit denen er zunächst schmuste, um ihnen dann den Hals umzudrehen, so steigerte sich sein Hass auf diese »Mistviecher« – wie er die Kinder der Familie Genc einmal nannte. Im Fachjargon von Psychiater Eggers hieß das: Er projizierte »das eigene hassenswerte kindliche Selbst auf Katzen und Türkenkinder«.
    Eigentlich war dieser Christian R. nirgendwo aufgewachsen. Als Säugling schon von der Mutter weggegeben, wurde sein Leben ein einziges Hin- und Her-Gezerre zwischen verschiedenen pädagogischen Einrichtungen und einer Mutter, die ihre Depressionen durch Alkohol betäubte. Allein mit einem ständig schreienden, trotzigen Kind prügelte die überforderte Frau den Sohn bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Voller Groll hatte Christian seinem Gutachter Eggers geschildert, wie sie ihn als Kleinkind getreten oder gegen einen Heizkörper geschleudert hatte. Oder wie sie ihn manches Mal mit ins Auto genommen und die Türen verriegelt hatte, damit sein Schreien nicht nach außen drang.
    Das Ergebnis all dieser Misshandlungen und der kontinuierlichen Lieblosigkeit war ein Mensch, der von sich annahm: »Ich bin böse, deswegen werde ich geschlagen und deswegen muss ich schlagen.« Christian konnte das Leid, dass er der türkischen Familie Genc angetan hatte, gar nicht nachempfinden. Denn nach allem, was an ihm selbst verbrochen worden war, sah es in ihm aus wie in einer verdorrten, abgestorbenen Wüstenei, ohneLeben, ohne Regungen, ohne Mitleid. So hieß es in Eggers psychiatrischem Gutachten.
    Hinter manchem Terroristen steckt ein um Aufmerksamkeit flehendes Kind
    Im November 2010 präsentierte die Pädagogin Saskia Lützinger eine Studie über familiäre Ursachen des Terrorismus. In einem Spiegel-Interview, in dem sie die Auswertung von 39 Täter-Biografien und zahlreicher Interviews mit inhaftierten Terroristen vorstellte, erläuterte sie das Ergebnis ihrer Untersuchung: Demnach ist das wesentliche Thema der links- oder rechtsextremistischen Terroristen ihre Vernachlässigung in der Kindheit. Die Terroristengruppe, in die sie aufgenommen wurden und zu der sie unbedingt dazu gehören wollten, ist für sie eine Art Familienersatz. »Es gab beispielsweise einen Vater, stramm rechts, dessen Sohn durfte schon im Kindesalter nicht mit behinderten Kindern spielen und musste sogar Nazi-Propaganda mit in den Kindergarten nehmen. Er hat seinen Sohn als Schulkind einmal so verprügelt, dass dieser für ein paar Tage auf der Intensivstation im Koma lag.« 43
    Die Täter wollten Aufmerksamkeit erregen. »Das ist ein sehr komplizierter Prozess, der mal bewusst, mal unbewusst abläuft«, so Lützinger. Am Beispiel des Nazi-Vaters erläuterte sie, dass der Sohn über die Gewalttätigkeit des Vaters mit deutlicher Distanziertheit sprach. »Ihm war gar nicht klar, dass er im Grunde genauso geworden ist.« Die Autorin und Pädagogin kam zu dem Schluss, dass es offensichtlich allen Betroffenen darum ging, »Kontrolle über das eigene Leben zu bekommen, die sie in ihrer chaotischen Kindheit und Jugend nie gehabt haben.« Für die von ihr interviewten Terroristen glaubte die Pädagogin sagen zu können, »dass familiäre Probleme der Ausgangspunkt für den Terrorismus waren« und nicht etwa politische Motive.
    Das Beispiel Christian R. ist krass, die

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