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Die Germanin

Titel: Die Germanin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gordian
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vorbereitet werden sollte, wurden vertiefende Studien nötig. Diese musste er im gallischen Lugdunum ableisten. Segestes wollte ihn bis an den Rhenus begleiten. Beim Abschied am Tor gab der alte Gelehrte seinem Schüler noch einige Ratschläge für die Reise. Plötzlich sagte Frau Male zu ihrem Ehemann: »Warum nimmst du den Alten nicht mit? Wozu wird er hier noch benötigt? Wir können uns keine unnützen Esser leisten!« Priscus erschrak fast zu Tode, denn wo sollte ein Greis wie er noch unterkommen? Nelda brach verzweifelt in Tränen aus. Segestes entschied, dass er bleiben und sich weiter um ihre Ausbildung kümmern sollte. Und daran änderte sich nichts.
    Da ihr die Mutter aber nach wie vor böse Blicke zuwarf, wenn sie sie mit einer Wachstafel oder einer Pergamentrolle sah, und weil sie ihr immer wieder Arbeiten aufhalste, die eigentlich die Mägde zu verrichten hatten, suchte Nelda nach einem geheimen Ort, an dem sie nicht ständiger Beobachtung ausgesetzt war. Segestes hatte ihr ein Pferd geschenkt, eine kleine rotbraune Stute, die sie Furi nannte und mit der sie in der Umgebung des Wehrhofs ausreiten durfte. Sie liebte das sanfte Tier und war oft mit ihm unterwegs. Beim Umherstreifen entdeckte sie den in dreifacher Mannshöhe liegenden, von Gesträuch fast verdeckten Eingang einer Höhle. Sie stieg den von Gestrüpp überwucherten Pfad hinauf und stieß einen Freudenschrei aus. Hier war sie sicher, hier würde niemand sie finden! Sie musste nur ein paar Zweige entfernen und hatte einen freien Blick auf die weite Landschaft. Der Eingang der Höhle lag in der Mittagssonne, doch innen war es kühl und feucht und es gab sogar frisches Wasser, das an der Wand herunterfloss und im Boden versickerte. Hier konnte sie ungestört den ganzen Sommer verbringen.
    Es war nun schon der zweite Sommer.
    Ständig allein zu sein, war ihr aber mit der Zeit langweilig geworden. Manchmal nahm sie Ramis mit herauf, ihre Kusine, die Tochter einer verwitweten Schwester ihrer Mutter, die nach dem Tode ihres Gemahls, eines Chattenhäuptlings, zu ihrer Sippe zurückgekehrt war. Die beiden fast gleichaltrigen Mädchen waren Freundinnen. Nackt tobten sie in der Höhle umher und bespritzten sich mit dem eiskalten Wasser. Sie führten auch lange, ernste Gespräche. Meist ging es dabei um das, was sie nachts, sich schlafend stellend, tatsächlich aber hellwach und neugierig, auf der langen Schlafbank, wo Männer, Frauen und Kinder gemeinsam lagen, beobachtet und gehört hatten. Sie fragten sich, ob sie das ebenfalls könnten, während andere ihnen dabei zusahen oder zuhörten. Dass es die Tiere vor aller Augen taten, war etwas anderes, das waren unvernünftige Geschöpfe, die kein Schamgefühl kannten. Es musste aber wohl so viel Vergnügen bereiten, dass diejenigen, die es taten, alles andere um sich vergaßen und nichts mehr wahrnahmen. Auch im Wald oder im Gerstenfeld taten es manche und waren nicht einmal erschrocken, wenn man vorüberging. Es musste so überwältigend sein, dass die Frauen dabei nicht einmal an den Tod dachten, der jede Dritte von ihnen danach ereilte. Wie viele hatten die beiden Mädchen bei der Geburt eines Kindes schon unter schrecklichen Qualen in ihrem Blut enden sehen.
    Immer, wenn ihre Gespräche an diesen Punkt kamen, umarmten sie sich ganz fest und weinten.
    Bald führte Nelda auch den alten Griechen zu ihrem Versteck. Priscus scheute zunächst den steilen Aufstieg zur Höhle, aber dann schnitt er sich einen Stock, auf den er sich stützen konnte. Oft kam er bei freundlichem Wetter herauf. Der blaue Himmel, die Hügellandschaft, die Grotte, das Mädchen – alles erinnerte ihn an seine Heimat und seine Jugend. Es erfrischte seinen Geist und manches fiel ihm wieder ein, wovon er geglaubt hatte, dass es längst aus seinem Gedächtnis gelöscht sei: ein Siegeslied von Pindar oder ein Monolog aus einem Drama von Euripides. Nelda lauschte dem seltsamen Singsang der griechischen Sprache und versuchte, Worte und Verse nachzusprechen. Der Alte unterbrach sie, verbesserte ihre Aussprache, ließ sie Worte und Sätze wiederholen. Ganze Gedichte rezitierten sie gemeinsam. Das gab es im wilden, rauen, unberührten Germanien: Ein Mädchen, nicht mehr Kind, noch nicht Frau, im Sonnenlicht vor dem Eingang der dunklen Höhle, eines der langen gebräunten Beine vorgestellt, die schlanken Arme zum Himmel erhoben, mit heller, klarer Stimme Verse deklamierend, in Worte gefasste, fremdartige Musik. Daneben im Schatten, auf dem

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