Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Zeit mit viel Rücksichtslosigkeit wegnehmen. Erhalte ich mir doch dabei selber die Jugend und den Trutz gegen die Schäbigkeit der Welt. Die Lieder des Giulio aber sind mir fast das Liebste, dieweil sie mir eine süße und unwiderrufliche Zeit sichtbar vor Augen stellen.“
„Mir hingegen,“ erwiderte der Amtmann mit bedenklichem Tone und ließ die weißen Finger erregt über den Tisch spielen, „mir scheint, mit Vergunst, diese Musik wenig gesund, sondern vielmehr aufreizend und recht dazu gemacht, gefährliche Gedanken und Empfindungen in einem jungen Gemüt heraufzuwühlen.“
„Es ist die welsche Manier,“ sagte Herr Werner begütigend; „unter dem blauen Himmel und im Duft der Orangenblüten gedeiht die Musik wie die Kunst anders als unter unsern Regenwolken, und hinwiederum tönt sie anders aus einem Mund, der nur die schönsten Laute zu formen gewohnt ist, als aus unsern rauen, von Bier und Nebel gleichermaßen verkratzten Kehlen.“
„Geschmacksache,“ entgegnete der andere scharf und nagte an der feinen Lippe, „mir scheint ein Weihnachtslied aus Kindermund nicht nur reiner und frömmer, sondern auch schöner, weil mit vernehmlicherer Sicherheit und klarerer Bewegung der Töne zu klingen … Wie,“ setzte er nach kurzer Pause hinzu, „kommt Ihr übrigens zu diesem welschen Vogel?“
„Es ist ein traurig und seltsam Schicksal, das ihn hergeführt,“ nahm Herr Werner nicht ohne Verlegenheit das Wort, „worüber zu sprechen mir aber nicht gestattet ist, was Euer Gestrengen mir nicht übel anschlagen wollen. Leicht kann es sein, daß diesen schönen und hochbefähigten Jüngling eine schlimme Zukunft erwartet. Er ist der einzige Sohn eines reichen Kaufherrn aus Bononien, hingegen hat ihn sein Lehrer, mein florentinischer Freund, hierher gesandt, allwo er nur wie ein Gefangener mit stetem Heimweh und forttreibendem Verlangen weilet, und ich weiß nicht, wie lange wir ihn behalten dürfen. Es könnte ein großer Künstler aus ihm werden, wenn das Schicksal es nicht anders will.“
Herr Werner schwieg, und das angedeutete Geheimnis legte eine peinliche Stille zwischen die Männer, die sich eben mit unangenehmer Kühle auszubreiten begann, als Frau Susanna heiter und wohlig unter der Tür erschien und mit fröhlichem Geplauder und einer aus dem tiefsten Keller heraufgeholten Flasche edeln Burgunders bald einer traulichen Stimmung auf die Beine verhalf. Mit ihrer schönen stattlichen Gestalt und dem frischen Gesicht unter dem immer noch schweren blonden Haar, das ein kleines Häubchen nur dürftig bedeckte, war die muntere Augsburgerin immer noch eine rechte Augenweide. Sie setzte sich zu den beiden Herren, und ihre Worte flossen warm und herzlich, während die Kelche aus feinem Nürnbergerglas in anmutigem Zusammenklang sich fanden.
Sie erzählte, wie sie Anna in ihr Stübchen gebracht und wie sich Sibylla nur mühsam und unter wiederholtem Zurückkehren von der neuen Freundin hätte trennen können. „So ist nun mein Mädelchen,“ sagte sie lachend, „ein recht kindisch und aufwallend Blut, das sich gleich mit aller Leidenschaft an ihre neue Freundin hängt, unbekümmert, ob Eurer Tochter solch Ungestüm auch lieb ist. Ich freilich,“ fügte sie herzlich hinzu, „kann mich solcher Verbindung nur freuen, dieweil Eure Anna unserer Sibylla wenn auch nicht an Jahren, so doch an Klugheit und Reife des Verstandes weit voran scheint, sodaß unser Sibyllchen nur lernen kann. Hinwiederum aber mag auch Eurem ernsten Töchterlein eine junge Freundschaft gut tun und ihr zumal über die ersten Heimwehschmerzen hinweghelfen.“
„Vom Heimweh,“ gab Herr Waser nicht ohne Stolz zurück, „wird Euch meine Anna wenig zu spüren geben, weilen sie nicht gewohnt ist, ihre Empfindungen nach außen zu kehren; zudem pflegt sie sich mit solcher Lebhaftigkeit ihrer Arbeit hinzugeben, daß sie wenig Zeit zu unnützen Gedanken finden dürfte. Eher fürchte ich,“ fuhr er nach einer kleinen Pause und mit bedenklicher Stirne fort, „daß ihrer Mutter die Trennung zusetzen wird, da sie von hinfälliger Leibesbeschaffenheit und einem zarten, leicht zu erschütternden Gemüte ist.“ Er preßte die Handflächen gegeneinander, daß die hageren Finger in den Gelenken krachten, und während die Wirtin sich mit teilnehmenden Worten nach seiner Frau und Familie erkundigte, nahm sein Gesicht mit den gesenkten bläulichen Lidern einen bekümmerten Ausdruck an. „Frau Esther ist mit ihren kaum fünfzehn Jahren wohl zu
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