Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
pfarrherrliche Engherzigkeit im allgemeinen.
Erstaunt betrachtete der Amtmann den Aufgebrachten; dann lächelte er fein: „So brauche ich mich denn, lieber Herr, nicht weiter zu wundern, daß mein Töchterchen damalen ob unserem Tun in ein wild und schier rasend Wesen verfiel, da ich nun sehe, wie der bloße Bericht einen weisen und erfahrenen Mann in Eifer zu bringen vermag.“ Und als er weiter erzählte, wie Anna von jenem Ereignis nach der ersten großen Verzweiflung über das Verlorene ein verändertes und nachdenksames Wesen gezeigt, woraus sich mit dem Verlangen nach jenen verborgenen Schätzen Neigung und Gelüste zu eigenem Kunstschaffen entwickelt habe, nickte Herr Werner voller Freude:
„Recht, recht, das gefällt mir; hat Herz, das Mädchen, und Mark, und wem die Flamme niemalen über dem Kopf zusammenschlägt und wen nicht etwan ein seltsam nachdenklich Wesen ankommt, der hat nichts von dem feu sacré 14 in sich, solches allein die wahre Kunst gebiert. Könnt’s mir glauben, Herr Amtmann, da ist nichts, was mir, wie diese Geschichte, ein so sicher Beweistum gäbe, daß es sich bei Eurer Tochter nicht allein um Laune oder gar Extravagances handelt, wohl aber um inneren Beruf.“
„Ihr sagt es,“ erwiderte der Amtmann ein wenig feierlich, „ein innerer Beruf.“ Und dann wandte er sich an die Hausfrau: „Nach allem Gesagten, Verehrteste, werdet Ihr mir nun glauben, daß ich mein Kind nicht selbstsüchtig auf einen Weg gestellt, den Ihr einen ungewöhnlichen und harten nennt. Aus eigenem Antrieb, sozusagen naturaliter, ist sie darauf gekommen, wenn schon ich zugebe, daß ich ihr dabei in keiner Weise hinderlich gewesen, sowenig ich ihr je entgegen war, wenn sie ihr Eifer, des Bruders Studien zu teilen, antrieb. Denn es ist meine feste Meinung, daß Wissenschaft und Künst, weit entfernt, ein Gehirn zu belasten, einen Menschen nicht nur zu Kraft und Bedeutung, sondern auch zur Selbständigkeit, id est: zu innerer Freiheit und Glück zu führen imstande sind, und ich sehe nicht ein, warum das andere Geschlecht unverschuldet solchen Glückes verlustig gehen sollte.“
„Das ist ein gutes Wort!“ rief Herr Werner erfreut und leerte wie zur Bekräftigung des Ausspruches sein neu gefülltes Glas. „Wahrlich, Herr Amtmann, Eurer Tochter soll es in meinem Haus an keinerlei Unterweisung und Geistesförderung fehlen, und ich zweifle nicht daran, daß wir Euer fürtrefflich Kind nicht nur zur Selbständigkeit, sondern auch an die höchste Staffel des Ruhmes bringen werden, wofern sie die Kraft zu jener Einsamkeit findet, ohne die keine Kunst gedeihen und fruchtbar werden kann!“
„Ach was,“ versetzte Frau Susanna mit unwilligem Kopfschütteln, „vorerst laßt mir das Kind noch ein wenig an der Wärme, ehe ihr es in eure kalte Einsamkeit hinausschickt. Verhüte Gott, daß ich eure stolzen Plän fördern helfe! Mir liegt einstweilen daran, Euer Töchterlein, Herr Amtmann, recht als mein eigen Kind ins Herz zu schließen und ihm soviel Wärme in Vorrat zu geben, daß es mir später nicht erfriert auf seiner einsamen Höhe. Und daß ihr es nur wißt, ihr gestrengen Herren, eines mag ich euch, mit Verlaub, nimmer glauben, daß ihr mit aller Kunst und Wissenschaft der Welt ein Mädelchen von dem Wege abbringen werdet, der ihm vom Himmel vorbestimmt ist und der nun einmal durch die Dornen und Rosen der Liebe hindurch und nicht daran vorbei führt.“
„So hoffe ich,“ entgegnete der Amtmann mit stolzem Lächeln, „daß Ihr, vielgeehrte Frau, an meiner Anna die Ausnahme der Regel finden möget. Im übrigen spreche ich Euch auch in Frau Esthers Namen für die Gutmeinenheit und Liebe, die Ihr unserem Kinde entgegenbringt, den höflichsten Dank aus.“ Damit erhob er sich unter förmlicher Verbeugung, da die vorgerückte Stunde zum Aufbruch und zur Einkehr im nahegelegenen Gasthaus mahnte, und verabschiedete sich schier herzlich von den Gastfreunden, die ihm die Aussprache dieses Abends seltsam nahegebracht hatte. Unter mancherlei liebenswürdigen Worten stellte sich Herr Werner dem Gaste zum Geleit, und Frau Susanna leuchtete ihnen durch den dunkeln, vom sternbesäten Maienhimmel überspannten Hof, der das Hinterhaus vom vorderen trennte, und durch den schmalen Korridor, der in den Laubengang der Junkerngasse mündete. Dort blieb Frau Werner, nachdem die Herren sich verabschiedet hatten, noch einen Augenblick stehen, und während ihr Lichtlein einen flatternden Schein an den Mauern des niedrigen
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