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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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Gewölbes hinaufwarf, horchte sie auf den unebenen Takt der Männerschritte, die mit vielfachem Echo unter den langen Lauben hinhallten. Ihr war, als ob sie an dem ungleichen Schreiten, dem raschen und heftigen des einen und dem harten und trockenen des andern, das Wesen dieser beiden Männer erkannte, die sich so fern in ihrer Art waren und die doch heute abend in einem absonderlichen und unnatürlichen Plane einhellig sich getroffen hatten, und während sie durch das stille Haus zurückkehrte, kamen ihr auch die eigenen Worte wieder zu Sinn und stiegen ihr mit einem weichen und mütterlichen Ton aus der Seele: „Warm will ich ihm geben, dem guten, mißleiteten Kinde!“
    *
    Während die Alten drunten in gesatzlichen Reden und wohlbedachten Erwägungen über Annas Schicksal zu Rate gegangen, hatte sie selbst in ihrem einsamen Stübchen mit mannigfaltigen bedrängenden Empfindungen, unter Schmerzen und Glück den ersten inhaltsreichen Tag in der Fremde beschlossen. Frau Werners mütterliche Herzlichkeit und das zärtlich überschwengliche Wesen Sibyllas, die sich mit lebhaften Freundschaftsbezeugungen und heißen Küssen von ihr verabschiedet, hatte in Annas wohlbehüteter Seele eine fremde Stimme wachgerufen, die sich nun in aufwühlenden Tönen geltend machte. Die Liebe hatte ein anderes Gesicht in ihrem väterlichen Hause, wo jedes seine wärmsten Gefühle hinter einer verständigen und nüchternen Außenseite wohlverwahrt hielt und die Zärtlichkeit sich nur in wenigen und schüchternen Äußerungen hervorwagte. Sie dachte an den stillen, fast kühlen Abschied von den Ihrigen, an die vernünftigen Worte, mit denen man die wehen Regungen des Herzens verdeckt und sich gegenseitig über die schlimme Stunde hinweggeholfen hatte, und ihr war, als ob man hier mit heißen und begehrlichen Fingern nach ihrem Innersten greifen und mit unvorsichtiger Flamme die mühsam erworbene Kraft ihrer Seele schmelzen wollte. Sie preßte die Lippen zusammen und drückte die Hand fest aufs Herz, um mit aller Gewalt der weichlichen und verführerischen Heimwehstimme zu wehren, als mit den zarten Lüften des Abends vom Garten her Giulios Gesang in ihre Kammer stieg. Mit den weichen schwermütigen Schwingen der Nachtvögel schwebten die Töne zu ihr hin, legten sich an ihre Brust und spannten ein süß und schimmernd Netz um des Kindes frühreife Seele, daß sie sich in bangen Schmerzen wand und dann in einer heißen stürmischen Tränenflut alle Süße und Qual und des Herzens krampfhafte Spannung ausströmte.
    Als Anna sich ausgeweint hatte, trat sie mit verschleierten Blicken ans Fenster. Das Lied im Garten war lange verklungen, nur die Aare rauschte ihren kühlen Gesang. Die Nacht war heraufgestiegen und wehte ihr den herben Atem ins brennende Gesicht, daß die Wangen frisch wurden und die Augen klar. Sie schaute in den Himmel, der sich mondlos mit der stillen Pracht seiner Sterne ungeheuer vor ihr wölbte. Ihr wurde auf einmal ganz leicht zumute, als ob die Schmerzen und Freuden und mannigfaltigen Eindrücke der letzten Tage fern von ihr ablägen und ihr die eigene frühere Kindheit wieder nahegetreten wäre. Das war der unendlich gedehnte Himmel, wie er sich mit weiten Horizonten über ihre freie Kinderheimat gespannt hatte und von dem das Fenster in ihrem Zürcherstübchen zwischen hohen Mauern nur ein enges, betrübtes Stücklein erhaschte. Und das waren die lieben alten Sternbilder, die einst der Pfarrer von Rüti in frühen prickelnden Winternächten ihr und dem kleinen Casparli gezeigt hatte: der alte Wagen, verläßlich und unbeirrt, und der schlanke Schwan — wie er den goldenen Hals hinstreckte, so voller sehnender Sucht! — und Bootes mit dem weithin verbreiteten Sternenmantel. Ach, und das leuchtende W der Cassiopeia, das sie einst mit geheimem Stolz auf den Namen des eigenen Geschlechtes gedeutet hatte. Und die einzelnen Sterne, gemeinsam und doch keiner dem andern gleich: Wega mit gelbem Licht und die grünroten Zwillinge, Arktur mit dem blutigen Schein und die weißschimmernde Capella — alle die lieben, stillen und blinkenden Augen, die einst in den Kreuzgang von Rüti hineingeblickt und dem Kinde wunderliche Geschichten erzählt hatten. Und Anna gewahrte mit inniger Freude, daß ihre Sprache die alte geblieben und daß sie sie immer noch verstand.
    Froh und leicht legte sie sich zur Ruhe und nahm die Erinnerungen der Kindheit mit in die Träume hinüber. Da stand sie wieder mit Pfarrers Casparli im schwindelnd

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