Die Geschichte der Deutschen
zum Wohle des Neuaufbaus organisieren soll, verliert sich im administrativen Dickicht, verscherbelt ein Volksvermögen zu Ausverkaufspreisen und auch die Korruption ist in dieser Behörde keine unbekannte Größe. Aus dem Westen eilen die Goldgräber in den Osten. Hochschullehrer, Offiziere, Behördenleiter, Vertreter von westlichen Rechtsanwaltskanzleien, Immobilienmakler – sie alle kommen wie kleine Kolonialisten in den Osten, um den ungebildeten »Wilden« eine Lektion im Fach kapitalistische Zivilisation zu erteilen. Die nach vierzig Jahren kommunistischer Diktatur wieder freien Menschen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt jubeln über den günstigen D-Mark-Umtausch, kaufen sich Autos und erfüllen sich ihre jahrzehntelang aufgestauten Reisewünsche. Als sie erwachen, stehen auf den Wiesen vor ihren Ortschaften herrliche Supermärkte, auf den neuen Autobahnen glitzern konsumbeglückende Rast- und Tankstellen, in den Städten glänzen neue Häuserfassaden und Glaspaläste und auf den neuasphaltierten Straßen gleiten die neuesten Omnibusmodelle leise dahin. Nur leider haben immer weniger Menschen Arbeit, um den Segen des Kapitalismus genießen zu können. Städte mit Arbeitslosenquoten von 25 Prozent sind Ende der neunziger Jahre keineswegs die Ausnahme. Jugendliche finden immer schwerer einen Ausbildungsplatz und sie wandern in den Westen oder bekämpfen ihren Frust mit aggressiven, nicht selten rechtsradikalen Attacken auf die Demokratie. Landschaften veröden und von der Arbeitslosigkeit besonders betroffene Kommunen leiden unter der hohen Auswanderungsquote.
|290| Der Westen der Bundesrepublik erlebt zunächst eine konjunkturelle Scheinblüte. Die erste Kaufwut der »Ossis« füllt die Kassen der »Wessi«-Unternehmen und sichert die Arbeitsplätze in Hamburg oder München, Köln oder Stuttgart. Was die Regierenden in einen Dauerschlaf versetzt. Kohl feiert sich als »Kanzler der Einheit« und Euro-Macher und die Parlamentarier im Bundestag interessiert der Aufbau ihrer neuen Hauptstadt mit Reichstagskuppel, den vielen teuren Ministerien und Abgeordnetenhäusern mehr, als der neuerliche Niedergang des Ostens. Überfällige Reformen des Sozialsystems werden nicht begonnen, die Bildungspolitik verliert sich in föderalen Machtkämpfen, die Milliarden, die vom Westen in den Osten transferiert werden, versickern vielfach in Prestigeobjekten und sind der Preis für die unmittelbar nach der Wende gemachten geld und wirtschaftspolitischen Fehler.
Der Schein des historischen Glücks weicht bald. Auch im Westen beginnt der Arbeitsmarkt in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu kollabieren. Kranken und Rentenkassen leeren sich, die Verschuldung des Staatshaushalts erreicht neue Rekordhöhen. Helmut Kohl verliert folgerichtig 1998 die Bundestagswahlen. Rot-Grün sind die neuen Farben der Macht. Wirtschaftspolitisch übernehmen Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer ein schweres Erbe. Ihre Versuche, das Land zu reformieren, bleiben halbherzig. Der Widerstand der Lobbyisten der Unternehmens- und Ärzteverbände, der Krankenkassen und Handwerkskammern verhindert notwendige Entscheidungen. Auch die Gewerkschaften sind noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. In die Negativschlagzeilen ist längst wieder die Bildungssituation an den Universitäten und Schulen geraten. Deutschland erreicht bei den internationalen Bildungsstudien blamable Plätze auf den unteren Rängen. Wo sich fast überall in Europa die Gesamt- und die Ganztagsschule durchgesetzt und bewährt haben, wo Kinderkrippen und Kindergärten für alle vielfach schon eine Selbstverständlichkeit sind, da hocken in Deutschland die Bildungsideologen immer noch in den altbürgerlichen Trutzburgen des 19. Jahrhunderts. Die Politik streitet lieber über die Abschottung des Landes – »das Boot ist voll« – gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen, als sich um Integration und Ausbildung ihrer Neubürger zu kümmern. Zeitungskrisen und Subventionskürzungen für Bibliotheken, Theater und Museen: Aus dem Land der Dichter und Denker ist – zumindest wenn der Blick auf die Schlagzeilen mancher Boulevardzeitung, auf die Statements der Politik oder auf die verbalen Inhalte der Wahlkämpfe fällt – ein Land der Anti-Aufklärung geworden.
Geschichte kennt kein Ende. Auch die Krise unserer Tage ist ein Zeichen tiefer |291| Umbrüche, wie sie immer wieder bei den großen Epochenwechseln der
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