Die Geschichte der Deutschen
Elend verantwortlich waren. Der Heroismus der Geschichtsschreibung rechtfertigte nur allzu häufig die Taten der gesellschaftlichen Eliten und vergaß darüber die unzähligen Opfer des Handelns von Königen und Fürsten, Feldherren und Kirchenführern. Cäsar hinterließ in Gallien eine verbrannte Region. Karl der Große befahl die Hinrichtung |11| von über 4 000 Sachsen. Die mittelalterlichen Päpste dachten in der Regel nicht an Gott, sondern an die Vermehrung von Macht und Reichtum. Luther, der große Reformator, war ein Judenhasser. Die goldgierigen Konquistadoren Hernando Cortez und Francisco Pizarro vernichteten mit Feuer und Schwert und unter dem Zeichen des Kreuzes die Azteken- und Inkareiche in Mexiko und Peru. Der Dreißigjährige Krieg wurde vom Habsburger Kaiser Ferdinand II. und dem Schweden-König Gustav Adolf, von den Generälen Wallenstein und Tilly im Namen der Religion geführt, aber es ging in erster Linie um Geld und Macht und der Krieg verwüstete Mitteleuropa. Als Napoleon seine Eroberungspläne realisierte, mussten Hunderttausende Franzosen, Italiener, Engländer, Russen, Österreicher, Bayern und Sachsen sterben. Bismarck führte drei verlustreiche Kriege, um die Demokratie in Deutschland zu verhindern und die Herrschaft der Hohenzollern im von ihm neu gegründeten Deutschen Reich zu sichern. Im 20. Jahrhundert verblutete Europas Jugend während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben vor Verdun und auf den Schlachtfeldern Flanderns. Dreißig Jahre später starben Hunderttausende im eisigen Stalingrad, weil Hitler die Welt erobern wollte. Die sozialistische Utopie, auf die sich der Kommunismus berief, mündete im terroristischen Stalinismus. Der deutsche Nationalsozialismus gebar das Unvorstellbare, die Ermordung des europäischen Judentums.
Ich musste es erst lernen: Geschichte ist Chaos. Der Weg des Fortschritts, den wir uns optimistisch als große Menschheitsleistung anrechnen, bleibt weitgehend eine Illusion. Triumph und Fall der Völker und ihrer Lenker stehen dicht nebeneinander. Goethes Graf Egmont, der im 16. Jahrhundert zur Rebellion der Niederländer gegen ihre spanischen Unterdrücker aufrief und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, wusste um die Hilflosigkeit des Menschen und der Mächte: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«
In meiner Jugend glaubte ich, die Völker seien fähig aus der Geschichte zu lernen, zeigte sie doch, dass vor allem Krieg und Elend die vergangenen Jahrhunderte bestimmt hatten. Die Sieger von heute waren fast immer die Verlierer von morgen. Weltreiche entstanden und vergingen. Die kurzen Perioden des Friedens bescherten den Menschen in der Regel sehr rasch Wohlstand. Der Krieg dagegen machte stets wenige reich und ließ die Massen verarmen. Wissen wir das nicht alles, wenn wir zurückblicken auf das, was war?
|12| Hoffnungsschimmer hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Im Westeuropa unserer Tage genießen wir die längste Friedensperiode und trotz des viel beschworenen wirtschaftlichen Niedergangs eine Zeit des Wohlstands, die es für uns so in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Und sind da nicht die großen Ideen eines Platon, Aristoteles, Spinoza oder Kant? Die Bücher von Ovid, Dante, Cervantes, die Dramen und Komödien Shakespeares oder der europäischen Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts? Die unsterblichen Kunstwerke der griechischen Dramatiker und Bildhauer? Die Bilder Michelangelos, Botticellis, van Goghs oder Kandinskys? Gibt es nicht die herrliche Musik von Bach, Beethoven, Gustav Mahler ? Hat die Welt nicht Pest und Cholera, Tuberkulose und Diphtherie weitgehend besiegt? Haben die Dampfmaschine, die Elektrizität und die moderne Technik nicht Millionen Arbeiter von den Härten schwerster Handarbeit befreit, die in den vergangenen Jahrtausenden das Leben ihrer Vorfahren bestimmte? Geschichte ist janusköpfig. Sie hat immer zwei Seiten. Verbrechen und menschliche Größe stehen eng beieinander.
Hier wird die Geschichte der Deutschen erzählt. Wir sollten aber nie vergessen, dass es eine isolierte nationale Geschichte im Grunde nie gab. Immer war diese eingebettet in die Geschichte ihrer Nachbarn, ja in die
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