Die Geschichte der Deutschen
ökonomisch versierter Regierungschef, der das Land durch schwierige weltwirtschaftliche Entwicklungen steuert. Als es dann zwischen den Supermächten zu einem Raketenstreit kommt, ist eine Regierungskrise unvermeidlich. Helmut Schmidt setzt sich angesichts der erneuten Raketenaufrüstung Moskaus für eine entsprechende Antwort der NATO ein. Proteste in der SPD und Massendemonstrationen sind die Folge. Die sich aus der Achtundsechziger-Bewegung entwickelnden Grünen stellen sich an die Spitze der Raketengegner. Seit 1980 sind sie eine Bundespartei, in der sich die Anhänger der Friedensbewegung und der Atomkraftgegner sammeln.
Mittlerweile hat auch die CDU den nach der Adenauer-Ära längst fälligen Generationswechsel vollzogen. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl ruft die »geistig-moralische Wende« in der Bundesrepublik aus und trifft damit die Stimmung der Konservativen. Als 1982 die Koalition von SPD und FDP über die Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik auseinander bricht und die FDP sich, geführt von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dem Wirtschaftsexperten Otto Graf Lambsdorff, aufs Neue umorientiert, geht der »Lotse« Helmut Schmidt »von Bord«. Am 1. Oktober 1982 wird Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Er wird es 16 Jahre bleiben und dabei zum »Kanzler der Einheit« werden.
Doch zunächst hat der neue Mann im Kanzleramt es schwer, die wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Gewerkschaftsskandale und die Schmiergelder des Flick-Konzerns an zahlreiche Politiker schaden überdies dem Image der Regierung. Viele Bürger kritisieren die Gleichgültigkeit der bürgerlichen Koalition gegenüber dem Reaktorunglück im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 und der Verschmutzung von Rhein und Main durch die chemische Großindustrie. Durch ungeschickte Formulierungen und politische Entgleisungen – Kohl setzt Gorbatschow mit Goebbels gleich, mit US-Präsident Ronald Reagan besucht er den Bitburger Soldatenfriedhof, auf dem auch SS-Angehörige begraben sind – gerät der Kanzler zunehmend in die negativen Schlagzeilen. Er wird zum Lieblingsmotiv der politischen Karikaturisten. Über keinen Regierungschef der Bundesrepublik sind so viele Witze gemacht worden wie über ihn. Bei den Bundestagswahlen von 1987 verliert die CDU/CSU dann auch 4,5 Prozent. Der innerparteiliche Unmut über das sinkende öffentliche Ansehen des Kanzlers wächst.
|287| Die Wende für Kohl kommt aus Moskau. Michail Gorbatschow versucht das kommunistische Regime durch seine Politik des Glasnost und Perestroika, der Offenheit und Umgestaltung, zu retten. Es ist zu spät. Das Reich bricht auseinander. Für die DDR-Führung ist das eine Katastrophe.
Das ehemals sozialistische »Musterland« gleich hinter der deutsch-deutschen Grenze lässt sich nicht länger abmauern. Die Bürger beginnen öffentlich Fragen zu stellen, kirchliche Protestgruppen und Bürgerrechtsbewegungen sammeln sich. Sie treffen sich jeden Montag an der Leipziger Nikolai-Kirche. Die von dort ausgehenden Montagsdemonstrationen finden immer mehr Zulauf und werden zu einer Bedrohung für die sich hinter den alten und überholten Prinzipien des Kommunismus verschanzenden Politgrößen. Als die Führung versucht, das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 zu fälschen, bricht ein Sturm los. Die Zahl der Ausreiseanträge ist in den letzten Jahren ohnehin steil angestiegen. Allein vom 1. Januar bis zum 30. September werden jetzt 161 000 Anträge gestellt. Urlaubsreisende nach Ungarn oder in die Tschechoslowakei, die sich in den Sommermonaten zu Zehntausenden dort aufhalten, wollen nicht mehr zurückkehren. In den Botschaften der Bundesrepublik von Prag und Warschau, aber auch in der Ständigen Vertretung in Ostberlin suchen Tausende Zuflucht. Am 2. Mai öffnet Ungarn seine Grenzen. Am 25. August macht die Budapester Regierung die Zusage, DDR-Flüchtlinge ungehindert ausreisen zu lassen. Ende September gehen über 30 000 Menschen über die Grenze nach Österreich. In der deutschen Botschaft in Prag verkündet Außenminister Genscher am 30. September, dass die dort in drangvoller Enge ausharrenden 6 000 Flüchtlinge in den Westen ausreisen können.
Am 40. Jahrestag der Gründung der DDR filmen die Fernsehkameras gespenstische Szenen. Auf der Tribüne nimmt die Staatsspitze um Erich Honecker mit bewegungslosen Mienen den Vorbeimarsch der Massen ab. Neben ihnen steht wie ein Fremder Michail Gorbatschow. »Wer zu spät
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