Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
auch wenn ich ihn nicht mehr weiß: Ich habe ihr viel zu verdanken, weil sie zu meinen Gunsten ausgesagt hat. Doch ich kann mich nicht an sie erinnern. Warum hat sie mich beobachtet?«
Beleg blickte ihn befremdet an: »Warum wohl?«, sagte er. »Túrin, hast du immer nur mit halbem Herzen und Sinn gelebt? Du bist mit Nellas durch die Wälder von Doriath gestreift, als du ein Knabe warst!«
»Das muss lange her sein«, erwiderte Túrin. »Oder meine Kindheit erscheint mir nun so, und ein Schleier liegt darüber – ausgenommen die Erinnerung an mein Vaterhaus in Dor-lómin. Aber warum hätte ich mit einem Elbenmädchen umherstreifen sollen?«
»Um zu lernen, was es dich lehren konnte«, sagte Beleg, »und wären es auch nur ein paar Elbenworte mit den Bezeichnungen der Waldblumen. Ach, Kind der Menschen, es gibt in Mittelerde noch anderes Leid als das deine und Wunden, die nicht von Waffen herrühren. Wahrlich, ich beginne zu glauben, dass Elben und Menschen sich nicht miteinander einlassen sollten.«
Túrin schwieg, doch lange betrachtete er Belegs Gesicht, als sei darin die Lösung seiner rätselhaften Worte zu lesen. Nellas aus Doriath aber sah ihn niemals wieder, und sein Schatten wich von ihr.
Alsdann wandten sich Beleg und Túrin der Frage zu, wohin sie gehen sollten. »Lass uns nach Dimbar zurückkehren«, sagte Beleg drängend, »zu den Nordmarken, wo wireinst zusammen lebten und kämpften. Wir werden dort gebraucht. Seit kurzem haben die Orks einen Weg von Taur-nu-Fuin herab gefunden; sie haben eine Straße durch den Pass von Anach gelegt.«
»Der Name sagt mir nichts«, meinte Túrin.
»So weit sind wir von Doriath aus nie vorgestoßen«, erklärte Beleg. »Doch du hast die Gipfel der Crissaegrim in der Ferne gesehen und nach Osten zu die dunklen Wände der Gorgoroth. Dazwischen liegt der Anach-Pass, über den hohen Quellen des Mindeb. Ein mühseliger und gefahrvoller Weg, und doch steigen viele jetzt dort herab, und Dimbar, einst ein friedliches Land, fällt unter die Dunkle Hand, und die Menschen von Brethil sind in Sorge. Gehen wir nach Dimbar!«
»Nein, ich werde mich nicht rückwärts wenden«, sagte Túrin. »Außerdem kann ich jetzt nicht so einfach nach Dimbar gelangen. Der Sirion liegt dazwischen, ohne Brücke oder Furt unterhalb der Brithiach weit im Norden; ihn zu überqueren ist gefährlich. Außer in Doriath. Doch ich werde nicht nach Doriath gehen und von Thingols Erlaubnis und Gnade Gebrauch machen.«
»Einen harten Mann hast du dich selbst genannt, Túrin. Und zu Recht, wenn du damit störrisch meinst. Nun bin ich an der Reihe. Ich jedenfalls werde so bald wie möglich dorthin gehen, wenn du nichts dagegen hast, und dir Lebwohl sagen. Wenn du wirklich den Langbogen an deiner Seite haben willst, so suche mich in Dimbar.« Darauf sagte Túrin nichts mehr.
Am nächsten Tag brach Beleg auf, und Túrin ging einen Bogenschuss weit vom Lager mit ihm, doch er blieb stumm. »Ist dies nun der Abschied, Sohn Húrins?«, sagte Beleg.
»Wenn du wirklich dein Wort halten und mir beistehen willst«, antwortete Túrin, »dann suche mich auf dem Amon Rûdh!« So sprach er, weil eine Ahnung ihn überkam und ohne zu wissen, was vor ihm lag. »Ansonsten ist dies unser letzter Abschied.«
»Vielleicht ist es das Beste so«, sagte Beleg und ging.
Beleg kehrte nun zu den Tausend Grotten zurück, und als er vor Thingol und Melian trat, erzählte er ihnen alles, was geschehen war. Nur, wie übel ihn Túrins Gefährten behandelt hatten, verschwieg er. Da seufzte Thingol und sagte: »Ich habe die Ziehvaterschaft für Húrins Sohn übernommen, und diese Verantwortung lässt sich nicht einfach ablegen, ob im Bösen oder im Guten; es sei denn, dass Húrin der Tapfere selbst zurückkehrte. Was könnte er mehr von mir verlangen?«
Aber Melian sprach: »Ein Geschenk sollst du nun von mir empfangen, Cúthalion, für deine Hilfe und zu deiner Ehre, und es ist das Wertvollste, was ich zu geben habe.« Und sie gab ihm einen Vorrat von lembas , der Wegzehrung der Elben, in silberne Blätter gehüllt; und die Fäden, die sie zusammenhielten, trugen an den Knoten das Siegel der Königin, ein Stück weißes Wachs in der Form einer Blüte Telperions. Denn nach den Bräuchen der Eldalie oblag die Verwahrung und Austeilung dieser Nahrung allein der Königin. »Diese Wegzehrung, Beleg«, sagte sie, »soll dir in der Wildnis und im Winter helfen und ebenso denen, die du bestimmst. Denn dies vertraue ich dir nun an, dass du
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