Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
Regen auf, und Wind regte sich in den Bäumen. Die Morgendämmerung war so hell wie seit vielen Tagen nicht mehr, und eine leichte Brise aus dem Süden öffnete den Himmel, der sich hell und klar um die aufgehende Sonne weitete.
Mîm saß noch immer unbeweglich da, als sei er tot. Seine schweren Lider waren jetzt geschlossen, und das Morgenlicht enthüllte, wie verschrumpft und altersschwach er war.Túrin stand vor ihm und blickte auf ihn herab. »Jetzt haben wir Licht genug«, sagte er.
Mîm öffnete die Augen, deutete auf seine Fesseln, und als er von ihnen befreit war, sagte er wütend: »Merkt euch, ihr Narren: Legt einem Zwerg niemals Fesseln an! Er wird es nicht verzeihen. Ich will nicht sterben, aber mein Herz ist voll Zorn über das, was ihr mir angetan habt. Ich bereue mein Versprechen.«
»Aber ich nicht«, sagte Túrin. »Du wirst mich zu deiner Wohnung führen. Bis wir dort sind, werden wir nicht vom Sterben sprechen. Dies ist es, was ich will.« Er blickte dem Zwerg unverwandt in die Augen, und Mîm konnte den Blick nicht ertragen; in der Tat konnten nur wenige der geballten Willenskraft oder dem Zorn in Túrins Augen standhalten. Nach kurzer Zeit wandte Mîm seinen Kopf zur Seite und erhob sich. »Folge mir, Herr!«, sagte er.
»Gut!«, sagte Túrin. »Aber dies eine will ich jetzt noch hinzufügen: Ich verstehe deinen Stolz. Vielleicht musst du sterben, aber du sollst nicht wieder gefesselt werden.«
»Das werde ich nicht«, sagte Mîm. »Aber kommt nun!«
Mit diesen Worten führte er sie zu dem Platz zurück, an dem er gefangen genommen worden war. Er deutete nach Westen. »Dort liegt mein Heim!«, sagte er. »Ihr habt es oft gesehen, nehme ich an, denn es ist groß genug. Scharbhund nannten wir es, bevor die Elben alle Namen änderten.« Da sahen sie, dass er auf den Amon Rûdh deutete, den Kahlen Berg, dessen nackte Kuppe sich über der viele Meilen großen Wildnis erhob.
»Wir haben den Berg oft gesehen«, sagte Andróg, »doch nie aus dieser Nähe. Wie kann es dort einen sicheren Unterschlupf geben oder Wasser und all die anderen Dinge, dieman braucht? Ich dachte es mir, dass Betrug im Spiel ist. Wie sollen sich Männer auf der Kuppe eines Hügels verstecken?«
»Eine hohe Wacht mag sicherer sein als ein Lager im Tal«, sagte Túrin. »Von Amon Rûdh geht der Blick weit ins Land. Wohlan, Mîm, ich werde kommen und sehen, was du uns zu zeigen hast. Wie lange werden wir, die tolpatschigen Menschen, brauchen, um dorthin zu gelangen?«
»Den ganzen Tag bis zur Abenddämmerung«, erwiderte Mîm, »wenn wir jetzt aufbrechen.«
Bald darauf setzte sich der Trupp in westlicher Richtung in Bewegung. Túrin ging an der Spitze, mit Mîm an seiner Seite. Sie bewegten sich vorsichtig, als sie die Wälder hinter sich gelassen hatten, doch das Land ringsum war still und leer. Über die verstreuten Steine führte der Weg bergan; denn Amon Rûdh lag am östlichen Rand der Hochmoore, die sich zwischen den Tälern von Sirion und Narog erhoben, und sein Gipfel ragte mehr als tausend Fuß über das steinige Heideland empor. An seiner östlichen Flanke stieg der zerklüftete Boden zwischen Gruppen von Birken, Ebereschen und uralten Dornenbäumen, die sich in den Fels krallten, allmählich zu den hohen Kämmen hinauf. Jenseits davon, auf den Mooren und den unteren Hängen des Amon Rûdh, wuchsen Dickichte von aeglos ; doch seine steile graue Kuppe war kahl bis auf das rote seregon , das den Stein überzog.
Als der Nachmittag sich neigte, waren die Geächteten bis dicht an den Fuß des Berges herangekommen. Sie näherten sich ihm von Norden her, denn so hatte Mîm sie geführt, und das Licht der sinkenden Sonne fiel auf den Berggipfel, wo das seregon in voller Blüte stand.
»Seht! Da ist Blut auf dem Gipfel«, sagte Andróg.
»Noch nicht«, gab Túrin zur Antwort.
Die Sonne sank, und in den Tälern breitete sich Dunkelheit aus. Der Berg ragte nun vor und über ihnen auf, und sie fragten sich, wozu es bei einem so unübersehbaren Ziel überhaupt eines Führers bedurfte. Aber als Mîm sie weiterführte und sie die letzten steilen Hänge zu erklimmen begannen, begriffen sie, dass er, ob aus alter Gewohnheit oder von geheimen Markierungen geleitet, einem bestimmten Pfad folgte. Dieser wand sich hierhin und dorthin, und wenn sie zur Seite blickten, sahen sie, dass sich zu beiden Seiten dunkle Täler und Grate auftaten oder der Hang in große Geröllhalden auslief, durchzogen von Abstürzen und Gruben, die unter
Weitere Kostenlose Bücher