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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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war. Er schlug vor, einen Spaziergang durch den Park zu machen. Diesmal war er es, der stehen blieb, Alma in die Arme nahm und sie küsste. Als seine Knie anfingen zu zittern und er sich in Glassplittern liegen sah, kämpfte er gegen den Drang an, sich zu entziehen. Er fuhr ihr mit den Fingern über ihrer dünnen Bluse das Rückgrat hinunter, und einen Augenblick vergaß er die Gefahr, in der er sich befand, dankbar für die Welt, die absichtlich scheidet, damit wir Trennendes überwinden, voller Freude darüber, uns einander anzunähern, auch wenn wir im tiefsten Inneren die Trauer über die Unüberwindlichkeit unserer Unterschiede nie vergessen können. Unversehens zitterte er heftig. Er spannte die Muskeln, damit es aufhörte. Alma spürte sein Zögern. Sie beugte sich zurück und sah ihn an, etwas wie Verletztheit in den Augen, und da hätte er beinahe, tat es aber dann doch nicht, die beiden Sätze gesagt, die er seit Jahren hatte sagen wollen: Etwas an mir ist aus Glas, und: Ich liebe dich.
Er sah Alma ein letztes Mal. Er hatte keine Ahnung, dass es das letzte Mal sein würde. Er glaubte, alles finge gerade erst an. Er verbrachte den Nachmittag damit, ihr eine Halskette zu basteln, winzige Vögel aus gefaltetem Papier, die auf einem Faden aneinander gereiht waren. Unmittelbar bevor er aus der Tür ging, schnappte er sich, einer spontanen Regung folgend, ein Gobelinkissen von der Couch seiner Mutter und stopfte es sich als Schutzmaßnahme in den Hosenboden. Kaum war das getan, fragte er sich, warum er nicht früher darauf gekommen war.
An diesem Abend – nachdem er Alma die Halskette geschenkt und sie ihr, während sie ihn küsste, behutsam um den Hals gebunden hatte, nur ein leichtes, gar nicht so schreckliches Beben empfindend, als sie nun ihm mit den Fingern das Rückgrat hinunterfuhr und einen Moment innehielt, ehe sie die Hand in seinen Hosenboden gleiten ließ, um sie alsbald zurückzuziehen, und ein Blick sie überkam, der zwischen Lachen und Entsetzen schwankte, ein Blick, der ihn an einen von jeher gekannten Schmerz erinnerte – sagte er ihr die Wahrheit. Jedenfalls versuchte er, die Wahrheit zu sagen, aber was herauskam, war nur die halbe Wahrheit. Später, viel später, wurde ihm bewusst, dass ihn zwei Dinge reuten, die er nicht loswerden konnte: erstens, dass er, als sie sich zurückbeugte, im Schein der Lampe gesehen hatte, wie seine selbst gebastelte Kette ihr den Hals zerkratzte, und zweitens, dass er im wichtigsten Moment seines Lebens den falschen Satz gewählt hatte.

Lange saß ich da und las die von meiner Mutter übersetzten Kapitel. Als ich mit dem zehnten fertig war, wusste ich, was ich zu tun hatte.
    34. ES GAB NICHTS MEHR ZU VERLIEREN
Ich zerknüllte den Brief meiner Mutter und warf ihn in den Müll. Ich rannte nach Hause, in mein Schlafzimmer hinauf, um einen neuen Brief an den einzigen Mann zu entwerfen, von dem ich glaubte, er könnte meine Mutter ändern. Ich arbeitete Stunden daran. Spätabends, als sie und Bird längst schlafen gegangen waren, stand ich aus dem Bett auf, schlich auf Zehenspitzen über den Flur und holte die Schreibmaschine meiner Mutter, die sie für über fünfzehn Wörter lange Briefe noch immer gern benutzt, in mein Zimmer. Ich musste viele Male tippen, ehe mir ein fehlerfreies Exemplar gelang. Ich las ihn ein letztes Mal durch. Dann unterschrieb ich mit dem Namen meiner Mutter und ging schlafen.

VERZEIH MIR
    Fast alles, was über Zvi Litvinoff bekannt ist, stammt aus der Einleitung, die seine Frau ein paar Jahre nach seinem Tod zur Neuauflage der Geschichte der Liebe schrieb. Der Ton ihrer Prosa, zärtlich und zurückhaltend, ist geprägt von der Hingabe derer, die ihr Leben der Kunst eines anderen gewidmet haben. Sie beginnt so: Als ich Zvi im Herbst 1951 in Valparaiso kennen lernte, war ich gerade zwanzig geworden. Ich hatte ihn oft in den Cafés unten am Hafen gesehen, die ich mit meinen Freunden besuchte. Er trug immer einen Mantel, sogar in den wärmsten Monaten, und starrte trübsinnig ins Weite. Er war fast zwölf Jahre älter als ich, aber etwas an ihm zog mich an. Ich wusste, dass er Flüchtling war, weil ich seinen Akzent bei den seltenen Gelegenheiten gehört hatte, wenn jemand, den er kannte, auch aus dieser anderen Welt, einen Augenblick an seinem Tisch verweilte. Meine Eltern waren von Krakau nach Chile ausgewandert, als ich noch klein war, sodass er für mich etwas Vertrautes und Berührendes an sich hatte. Ich zog meinen Kaffee in die Länge,

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