Die Geschichte der Liebe (German Edition)
den Daumennagel unter die Lasche. Obenauf lag ein Brief, ein einziger Satz, geschrieben in der winzigen englischen Handschrift meiner Mutter:
Lieber Mr. Marcus,
ich hoffe, diese Kapitel enthalten alles, was Sie sich erhoffen; weniger wäre allein meine Schuld.
Ihre
Charlotte Singer
Mir wurde ganz blümerant. Fünfzehn langweilige Wörter ohne auch nur den leisesten Hinweis auf eine Romanze. Ich wusste, dass ich es abschicken sollte, dass es nicht meine Sache war, dass es nicht recht ist, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Aber es gibt eben vieles, das nicht recht ist.
33. DIE GESCHICHTE DER LIEBE, 10. KAPITEL
Während der Glaszeit glaubte jeder, irgendetwas an ihm oder ihr sei überaus zerbrechlich. Für manche war es die Hand, für andere der Oberschenkelknochen, wieder andere glaubten, ihre Nase sei aus Glas. Die Glaszeit folgte der Steinzeit als evolutionäres Korrektiv, denn sie vermittelte den menschlichen Beziehungen einen neuen Sinn für Zerbrechlichkeit, der das Mitgefühl förderte. In der Geschichte der Liebe dauerte diese Periode verhältnismäßig kurze Zeit – ein Jahrhundert ungefähr –, bis ein Arzt namens Ignacio da Silva darauf kam, die Menschen zur Behandlung auf eine Couch zu legen und ihnen einen anregenden Klaps auf den fraglichen Körperteil zu geben, wodurch sich die Wahrheit offenbarte. Die anatomische Illusion, die so real erschienen war, verschwand allmählich und wurde – wie so vieles, was wir nicht mehr brauchen, aber nicht aufgeben können – rudimentär. Doch ab und zu, aus manchmal unverständlichen Gründen, taucht sie wieder auf, was vermuten lässt, dass die Glaszeit, genau wie die Stummzeit, nie ganz zum Abschluss gekommen ist.
Nimm beispielsweise den Mann, der dort die Straße entlanggeht. Du würdest ihn nicht unbedingt bemerken, er gehört nicht zu der Sorte, die man bemerkt; alles an seiner Kleidung und Haltung schreit danach, in der Menge nicht aufzufallen. Gewöhnlich – das würde er dir selbst bestätigen – wird er übersehen. Er trägt nichts bei sich. Zumindest scheint er nichts bei sich zu tragen, keinen Schirm, obwohl es nach Regen aussieht, keine Aktentasche, obwohl Hauptverkehrszeit ist und die Leute um ihn her nach Hause streben, vornüber gegen den Wind gebeugt, ins warme Heim am Rand der Stadt, wo die Kinder am Küchentisch über ihren Hausaufgaben sitzen, wo duftend das Abendessen wartet und vermutlich ein Hund, weil in solchen Häusern immer ein Hund ist.
Eines Abends, als der Mann noch jung war, beschloss er, zu einem Fest zu gehen. Dort traf er ein Mädchen, mit dem er seit der Grundschule in eine Klasse ging, ein Mädchen, in das er immer ein bisschen verliebt gewesen war, obgleich er sicher annahm, dass sie von seiner Existenz nichts wusste. Sie hatte den schönsten Namen, den er je gehört hatte: Alma. Als sie ihn an der Tür stehen sah, strahlte sie und durchquerte den Raum, um mit ihm zu reden. Er konnte es nicht glauben.
Eine oder zwei Stunden vergingen. Es muss eine gute Unterhaltung gewesen sein, denn ehe er sich versah, sagte Alma, er solle die Augen schließen. Dann küsste sie ihn. Ihr Kuss war eine Frage, mit deren Beantwortung er sein ganzes Leben verbringen wollte. Er fühlte seinen Körper zittern. Er fürchtete, die Kontrolle über seine Muskeln zu verlieren. Für jeden anderen wäre das in Ordnung gewesen, aber für ihn stellte es sich als nicht so einfach dar, weil dieser Mann glaubte – und, solange er sich erinnern konnte, immer geglaubt hatte –, etwas an ihm sei aus Glas. Er stellte sich jene falsche Bewegung vor, die ihn zu Fall bringen und vor ihr zersplittern lassen würde. Widerwillig entzog er sich Alma. Er lächelte zu ihren Füßen hinunter, in der Hoffnung, sie würde verstehen. Sie redeten stundenlang.
An diesem Abend ging er frohgemut nach Hause. Er konnte nicht schlafen, so aufgeregt erwartete er den nächsten Tag. Er und Alma hatten eine Verabredung, wollten ins Kino. Am nächsten Abend holte er sie ab und schenkte ihr einen Strauß gelbe Osterglocken. Im Kino bekämpfte – und besiegte! – er die Gefahren des Sitzens. Er sah sich den ganzen Film nach vorn gebeugt an, sodass sein Gewicht auf der Unterseite der Oberschenkel ruhte und nicht auf dem Teil von ihm, der aus Glas war. Sofern Alma es bemerkte, sagte sie nichts. Er bewegte sein Knie ein wenig, und ein wenig mehr, bis es an ihrem lehnte. Er schwitzte. Als der Film vorbei war, hatte er keine Ahnung, um was es darin gegangen
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