Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Anstelle eines Hustens gab ich ihm einen Stock, an dem er ging, seit er mit Anfang zwanzig einen Autounfall gehabt hatte, und beschloss, seine Traurigkeit komme daher, dass seine Eltern ihn als Kind zu viel allein gelassen hätten, dann gestorben wären und ihm ihr ganzes Geld vermacht hätten. Auf der Rückseite der Postkarte stand:
Liebe Ms. Singer,
ich bin hocherfreut über Ihre Antwort und beglückt zu hören, dass Sie die Übersetzungsarbeit vornehmen werden. Bitte teilen Sie mir Ihre Bankverbindung mit, dann überweise ich unverzüglich die ersten 25 000 Dollar. Darf ich fragen, ob es möglich wäre, mir den Text im Zuge der Arbeit in Vierteln zu schicken? Bitte entschuldigen Sie meine Ungeduld, sie ist Zeichen meiner aufgeregten Vorfreude, endlich Litvinoffs Buch – und Ihres – zu lesen. Aber auch meiner Vorliebe, Post zu empfangen, und der Absicht, eine Erfahrung, von der ich annehme, dass sie mich tief bewegen wird, so lange wie möglich auszudehnen.
Mit freundlichem Gruß
J . M .
31. JEDER ISRAELIT HÄLT DIE EHRE SEINES GANZEN VOLKES IN DEN HÄNDEN
Eine Woche später war das Geld da. Zur Feier des Tages lud meine Mutter uns ins Kino ein, ein französischer Film mit Untertiteln über zwei von zu Hause weggelaufene Mädchen. Abgesehen von uns saßen nur drei andere im Saal. Einer davon war der Platzanweiser. Bird aß schon während des Vorspanns seine Milk Duds auf und raste im Zuckerrausch die Gänge rauf und runter, bis er in der ersten Reihe einschlief.
Nicht lange danach, in der ersten Aprilwoche, kletterte er aufs Dach der Hebräischen Schule, fiel herunter und verstauchte sich das Handgelenk. Zum Trost stellte er vor unserem Haus einen Spieltisch auf und malte ein Schild, auf dem stand FRISCHES LEMON-AID 50 CENT BITTE SELBST EINSCHENKEN (VERSTAUCHTES HANDGELENK). Ob Regen oder Sonnenschein, er war draußen mit seinem Krug voller Limonade und einem Schuhkarton zum Geldsammeln. Als er die Kundschaft in unserer Straße abgeschöpft hatte, zog er ein paar Blocks weiter und stellte sich vor einem verwilderten Grundstück auf. Er verbrachte mehr und mehr Zeit dort. In flauen Stunden überließ er den Spieltisch sich selbst und streifte umher, spielte auf dem Grundstück. Jedes Mal, wenn ich vorbeikam, hatte er etwas zu dessen Verschönerung getan: den verrosteten Zaun zur Seite gezerrt, Unkraut weggehackt, einen Müllsack mit Abfall gefüllt. Bei Einbruch der Dunkelheit kam er mit zerschürften Beinen und schiefer kippa auf dem Kopf nach Hause. «Was’n Dreck», sagte er. Aber als ich fragte, was er dort vorhabe, zuckte er nur die Achseln. «Ein Ort gehört jedem, der ihn nutzen kann», erklärte er. «Danke, Mr. Dalai Lamed Wownik. Hat Mr. Goldstein dir das gesagt?» – «Nein.» – «Und, wozu nutzt du ihn denn großartig?», rief ich ihm nach. Statt zu antworten, ging er zum Türrahmen, reckte sich, um etwas zu berühren, küsste seine Hand und lief die Treppe hinauf. Es war eine Plastikmesusa; er hatte welche an sämtliche Türrahmen im Haus geklebt. Sogar an der Badezimmertür war eine.
Am nächsten Tag fand ich den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt in Birds Zimmer. Er hatte Gottes Namen mit wasserfestem Marker oben auf jede Seite gekritzelt. «WAS HAST DU MIT MEINEM NOTIZBUCH GEMACHT?», schrie ich. Er schwieg. «DU HAST ES RUINIERT.» – «Nein, hab ich nicht. Ich war ganz vorsichtig …» – «Vorsichtig? Vorsichtig? Wer hat dir erlaubt, es überhaupt anzufassen? Hast du noch nie das Wort PERSÖNLICH gehört? Wann hast du dich eigentlich das letzte Mal wie ein normaler Mensch benommen?» – «Was ist denn da unten los?», rief Mom vom obersten Treppenabsatz. «Nichts!», sagten wir gleichzeitig. Kurz darauf hörten wir sie in ihr Arbeitszimmer zurückgehen. Bird hielt sich den Arm vors Gesicht und bohrte in der Nase. «Verdammte Scheiße, Bird», flüsterte ich durch die Zähne. «Versuch doch wenigstens, normal zu sein. Du musst es wenigstens versuchen .»
32. ZWEI MONATE LANG GING MEINE MUTTER KAUM AUS DEM HAUS
Eines Nachmittags in der letzten Woche vor den Sommerferien kam ich von der Schule nach Hause und fand meine Mutter in der Küche, mit einem Päckchen in der Hand, das unter einer Adresse in Connecticut an Jacob Marcus gerichtet war. Sie hatte das erste Viertel der Geschichte der Liebe fertig übersetzt und wollte, dass ich es zur Post brachte. «Gern», sagte ich, indem ich es unter den Arm klemmte. Stattdessen ging ich in den Park und fummelte
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