Die Geschichte der Liebe (German Edition)
hingen, nichts über das einzige gerahmte, der sich ablösenden Tapete zugewandte Foto (das Rosa umgedreht und sich angesehen haben muss, als Litvinoff sich entschuldigte, um über den Flur auf die Toilette zu gehen) von einem Jungen und einem Mädchen, die mit steif herabhängenden Armen, zusammengepressten Händen und bloßen Knien in Positur standen, während hinter dem Fenster, im hintersten Winkel des Bildes neben dem Rahmen gerade noch zu sehen, sich langsam der Nachmittag entfernte. Und obwohl Rosa beschreibt, wie sie mit der Zeit ihre schwarze Krähe in die Ehe führte, wie ihr Vater starb und das große Haus ihrer Kindheit mit seinen süß duftenden Gärten verkauft wurde und sie zu Geld kamen, wie sie einen kleinen weißen Bungalow auf den Klippen über dem Wasser außerhalb von Valparaiso kauften und Litvinoff seine Arbeit in der Schule für eine Weile aufgeben und die meisten Nachmittage und Abende schreiben konnte, sagt sie nichts von Litvinoffs hartnäckigem Husten, der ihn oft mitten in der Nacht hinaus auf die Terrasse trieb, wo er aufs schwarze Wasser starrend stand, nichts von den langen Zeiten, die er stumm blieb, und nichts davon, wie seine Hände manchmal zitterten oder wie sie ihn vor ihren Augen alt werden sah, als verginge die Zeit für ihn schneller als für alle um ihn her.
Was Litvinoff selbst betrifft, so wissen wir nur, was auf den Seiten des einzigen Buches steht, das er geschrieben hat. Er führte kein Tagebuch und schrieb wenig Briefe. Diejenigen, die er geschrieben hat, gingen entweder verloren oder wurden vernichtet. Abgesehen von einigen Einkaufslisten und persönlichen Notizen und der einzigen Seite des jiddischen Manuskripts, die Rosa aus der Wasserflut barg, ist nur ein erhaltenes schriftliches Zeugnis bekannt, eine Ansichtskarte von 1964, adressiert an einen Neffen in London. Damals war die Geschichte in einer bescheidenen Auflage von zweitausend Exemplaren erschienen, und Litvinoff gab wieder Unterricht, diesmal – dank seines gestiegenen Ansehens aufgrund der noch frischen Veröffentlichung – ein Literaturseminar an der Universität. Die Ansichtskarte liegt, für jedermann zu sehen, in einem Schaukästchen auf verschlissenem blauem Samt im verstaubten Museum für Stadtgeschichte, das fast immer geschlossen ist, wenn jemand auf den Gedanken kommt, es zu besuchen. Auf der Rückseite steht schlicht und einfach:
Lieber Boris,
wie schön zu hören, dass du die Prüfungen geschafft hast. Möge deine Mutter in seligem Angedenken ruhen, sie wäre ja so stolz. Ein richtiger Doktor! Sicher bist du jetzt fleißiger denn je, aber wenn du zu Besuch kommen willst, wir haben ja das Gästezimmer. Bleib, solange du Lust hast. Rosa ist eine gute Köchin. Du kannst faul am Meer sitzen und richtig Urlaub machen. Wie steht es mit Mädchen? Nur eine Frage. Vergiss sie nicht vor lauter Fleiß! Alles Liebe und meine Glückwünsche
Zvi
Die Vorderseite der Ansichtskarte, ein handkoloriertes Foto vom Meer, ist auf der Erläuterung an der Wand daneben abgebildet, begleitet von den Worten: Zvi Litvinoff, Autor des Werkes Die Geschichte der Liebe , wurde in Polen geboren und lebte siebenunddreißig Jahre in Valparaiso, bis zu seinem Tod 1978. Diese Postkarte schrieb er an Boris Perlstein, den Sohn seiner ältesten Schwester. In kleineren Buchstaben steht links unten in der Ecke: Gestiftet von Rosa Litvinoff. Was nicht dasteht, ist, dass seine Schwester Miriam im Warschauer Ghetto von einem Nazioffizier in den Kopf geschossen wurde oder dass Litvinoff außer Boris, der auf einem Kindertransport entkam und die restlichen Jahre des Krieges und seiner Kindheit in einem Waisenhaus in Surrey verbrachte, und später Boris’ Kindern, die manchmal an der von Verzweiflung und Angst geprägten Liebe ihres Vaters erstickten, keine überlebenden Verwandten hatte. Es steht auch nicht da, dass die Postkarte nie abgeschickt wurde, aber jeder aufmerksame Betrachter wird erkennen, dass die Briefmarke keinen Stempel trägt.
Was nicht bekannt ist über Zvi Litvinoff, ist endlos. So ist beispielsweise nicht bekannt, dass er auf seiner ersten und letzten Fahrt nach New York im Herbst 1954 – als Rosa gedrängt hatte, sie sollten dorthin fahren, um einigen Verlagslektoren sein Manuskript zu zeigen – in einem überfüllten Kaufhaus so tat, als habe er seine Frau aus den Augen verloren, dass er hinausging, die Straße überquerte und in die Sonne blinzelnd im Central Park stand. Während sie zwischen Etageren
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