Die Geschichte der Liebe (German Edition)
genau dann Augenkontakt zu seinem Liebhaber aufnahm, mochte der es versehentlich für die keineswegs unähnliche Geste für Jetzt merke ich, dass es ein Fehler war, dich zu lieben halten. Solche Irrtümer gingen ans Herz. Trotzdem, weil die Menschen wussten, wie leicht sie passieren konnten, weil sie nicht mit der Illusion herumliefen, sie verstünden vollkommen, was andere sagten, waren sie es gewohnt, einander zu unterbrechen und zu fragen, ob sie richtig verstanden hätten. Manchmal waren Missverständnisse sogar erwünscht, da sie Gelegenheit gaben zu sagen: Verzeih mir, ich habe mich nur an der Nase gekratzt. Natürlich weiß ich, dass es immer richtig war, dich zu lieben. Wegen der Häufigkeit dieser Irrtümer nahm die Geste für das Um-Verzeihung-Bitten eine denkbar schlichte Form an. Das einfache Öffnen der Hand bedeutete: Verzeih mir.
Abgesehen von einer Ausnahme gibt es für diese erste Sprache kaum einen Beleg. Die Ausnahme, auf der alles Wissen darüber beruht, besteht in einer Sammlung von neunundsiebzig versteinerten Gesten, Abdrücken menschlicher Hände, die sich, mitten im Satz erstarrt, in einem kleinen Museum in Buenos Aires befinden. Eine macht die Geste für Manchmal, wenn der Regen , eine andere für Nach all den Jahren , noch eine andere für War es ein Fehler, dich zu lieben? Sie wurden 1903 von dem argentinischen Arzt Antonio Alberto de Biedma in Marokko entdeckt. Auf einer Wanderung durch den Hohen Atlas fand er eine Höhle, wo die neunundsiebzig Gesten im Schiefer abgebildet waren. Er studierte sie über Jahre, ohne sie auch nur annähernd zu verstehen, bis er eines Tages, schon vom Fieber der Ruhr befallen, an der er sterben sollte, plötzlich in der Lage war, die feinen Bewegungen der im Stein gefangenen Fäuste und Finger zu entziffern. Bald darauf wurde er nach Fes in ein Krankenhaus gebracht, und während er im Sterben lag, bewegten sich seine Hände wie Vögel und vollführten tausend Gesten, die all die Jahre geruht hatten.
Wenn dir auf großen Versammlungen, Festen oder inmitten von Leuten, mit denen du dich nicht vertraut fühlst, die Hände manchmal ungelenk an den Enden der Arme herabhängen – wenn du nicht weißt, wohin damit, und dich die Traurigkeit überwältigt, die mit der Erkenntnis der Fremdheit des eigenen Körpers kommt –, so, weil deine Hände sich an eine Zeit erinnern, da die Kluft zwischen Körper und Geist, Hirn und Herz, dem, was innen, und dem, was außen ist, sehr viel kleiner war. Nicht, dass wir die Sprache der Gesten vollständig vergessen hätten. Die Gewohnheit, beim Sprechen die Hände zu bewegen, ist uns geblieben. Klatschen, mit dem Finger zeigen, Daumen hoch: lauter Artefakte alter Gesten. Händchenhalten beispielsweise ist eine Art Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, gemeinsam nichts zu sagen. Und nachts, wenn es zum Sehen zu dunkel ist, finden wir es nötig, uns einander durch Gesten auf unseren Körpern verständlich zu machen.
Die Besitzerin des Antiquariats stellte das Radio leiser. Sie blätterte zur hinteren Umschlagklappe, um mehr über den Autor zu erfahren, aber da stand nur, dass Zvi Litvinoff in Polen geboren und 1941 nach Chile ausgewandert sei, wo er heute noch lebe. Es gab kein Foto. Noch am selben Tag, immer wenn sie keine Kundschaft zu bedienen hatte, las sie das Buch zu Ende. Bevor sie abends den Laden schloss, stellte sie es ins Schaufenster, etwas wehmütig, sich von ihm trennen zu müssen.
Am nächsten Morgen fielen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne quer über den Titel des Buches. Die erste von vielen Fliegen landete auf dem Schutzumschlag. Die angeschimmelten Seiten begannen in der Wärme zu trocknen, während die blaugraue Perserkatze, die das Regiment im Laden führte, an ihm vorbeistrich und Anspruch auf einen sonnigen Platz erhob. Ein paar Stunden später streifte es der flüchtige Blick des ersten von vielen Passanten im Vorbeigehen.
Die Ladenbesitzerin versuchte nicht, es irgendeinem ihrer Kunden aufzudrängen. Sie wusste, in den falschen Händen konnte so ein Buch leicht abgetan oder, schlimmer noch, nicht gelesen werden. Sie ließ es vielmehr an Ort und Stelle liegen, in der Hoffnung, der richtige Leser würde es entdecken.
Und genau das geschah. Eines Nachmittags sah ein hoch gewachsener junger Mann das Buch im Schaufenster. Er kam in den Laden, nahm es zur Hand, las ein paar Seiten und brachte es an die Registrierkasse. Als er mit der Inhaberin sprach, konnte sie seinen Akzent nicht zuordnen.
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