Die Geschichte der Liebe (German Edition)
oder meine Eltern könnten sterben. Um meine Mutter bangte ich am meisten. Sie war die Kraft, um die unsere Welt sich drehte. Anders als mein Vater, der in den Wolken lebte, wurde meine Mutter von der rohen Gewalt der Vernunft durchs Universum getrieben. Sie richtete all unsere Streitigkeiten. Ein missbilligendes Wort von ihr, und schon standen wir in der Ecke, wo wir weinten und uns unser bevorstehendes Martyrium ausmalten. Und doch. Ein einziger Kuss konnte uns ins Königreich zurückholen. Ohne sie wäre unser Leben im Chaos versunken.
Die Angst vor dem Tod verfolgte mich ein ganzes Jahr. Ich weinte, wann immer jemand ein Glas fallen ließ oder einen Teller zerbrach. Aber auch als das vorbei war, blieb mir eine unauslöschliche Traurigkeit erhalten. Nicht, dass sie durch etwas neu Hinzugetretenes verursacht worden wäre. Schlimmer: Ich war mir einer Sache bewusst geworden, die mich schon die ganze Zeit unbemerkt begleitet hatte. Dieses neue Bewusstsein schleppte ich mit mir herum wie einen an den Fuß gebundenen Stein. Wohin ich auch ging, es folgte mir. Im Kopf dachte ich mir traurige Liedchen aus. Elogen an das fallende Laub. Ich stellte mir meinen Tod in hundert verschiedenen Versionen vor, aber das Begräbnis verlief immer gleich: Irgendwo in meiner Phantasie wurde ein roter Teppich ausgerollt. Denn nach jedem heimlichen Tod, den ich starb, entdeckte man meine Größe.
So hätte es weitergehen können.
Eines Morgens, nachdem ich beim Frühstück getrödelt hatte und dann stehen geblieben war, um Mrs. Stanislawskis riesige Unterwäsche, die zum Trocknen auf der Leine hing, näher zu betrachten, kam ich verspätet zur Schule. Die Glocke hatte schon geläutet, aber ein Mädchen aus meiner Klasse kniete auf dem staubigen Schulhof. Das Haar hing ihr zu einem Zopf geflochten über den Rücken. Sie hielt etwas zwischen den hohlen Händen. Ich fragte, was es sei. Ich habe eine Motte gefangen , sagte sie, ohne mich anzusehen. Was willst du denn mit einer Motte? , fragte ich. Was ist das für eine Frage? , sagte sie. Ich überdachte meine Frage. Also gut, wenn es ein Schmetterling wäre, wäre das eine Sache , sagte ich. Nein, wäre es nicht , sagte sie. Das wäre eine andere Sache. – Du solltest sie fliegen lassen , sagte ich. Es ist eine sehr seltene Motte , sagte sie. Woher weißt du das? , fragte ich. Ich habe so ein Gefühl , sagte sie. Ich wies darauf hin, dass die Glocke schon geläutet hatte. Dann geh doch rein , sagte sie. Niemand hält dich davon ab. – Erst wenn du sie fliegen lässt. – Dann kannst du vielleicht ewig warten.
Sie öffnete den Spalt zwischen ihren Daumen und sah hinein. Lass mich sehen , sagte ich. Sie sagte nichts. Darf ich bitte auch mal sehen? Sie sah mich an. Ihre Augen waren grün und stechend. Na gut. Aber sei vorsichtig. Sie hob ihre geschlossenen Hände vor mein Gesicht und machte die Daumen einen Zentimeter auseinander. Ich roch die Seife auf ihrer Haut. Alles, was ich sehen konnte, war der Schimmer eines braunen Flügels, also zog ich an ihren Daumen, um besseren Einblick zu gewinnen. Und doch. Sie muss geglaubt haben, ich wolle die Motte befreien, denn plötzlich klatschte sie die Hände zusammen. Entsetzt sahen wir uns an. Als sie die Hände wieder aufmachte, zappelte die Motte schwach. Ein Flügel war ab. Sie hielt die Luft an. Ich war’s nicht , sagte ich. Sie hielt die Motte in der geöffneten Hand. Als ich ihr in die Augen blickte, sah ich Tränen darin. Ein Gefühl, von dem ich noch nicht wusste, dass es Begehren war, verschnürte mir den Magen. Tut mir leid, flüsterte ich. Ich empfand das Bedürfnis, sie zu umarmen, die Motte und den abgebrochenen Flügel wegzuküssen. Sie sagte nichts. Wie gebannt starrten wir uns an.
Es war, als teilten wir ein sündiges Geheimnis. Ich hatte sie täglich in der Schule gesehen und noch nie etwas Besonderes für sie empfunden. Höchstens, dass ich sie rechthaberisch fand. Sie konnte auch nett sein. Aber: Sie war ein schlechter Verlierer. Mehr als einmal hatte sie nicht mehr mit mir gesprochen, weil es mir ausnahmsweise gelungen war, irgendeine blöde Frage des Lehrers schneller zu beantworten als sie. Der König von England heißt George!, rief ich, und dann musste ich mich den Rest des Tages gegen ihr eisiges Schweigen verteidigen.
Aber jetzt kam sie mir anders vor. Ihre magischen Kräfte wurden mir bewusst. Wie sie Licht und Schwerkraft an den Platz zu ziehen schien, an dem sie stand. Ich bemerkte, was mir vorher nie
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