Die Geschichte der Liebe (German Edition)
aufgefallen war. Wie sie die Fußspitzen leicht nach innen drehte. Den Dreck an ihren bloßen Knien. Wie ordentlich ihr Mantel auf ihren schmalen Schultern saß. Als hätten meine Augen Lupenwirkung, sah ich sie von nahem. Den schwarzen Schönheitsfleck, wie ein Tintenklecks über ihrer Lippe. Die rosig durchscheinende Muschel ihres Ohrs. Den hellen Flaum auf ihren Wangen. Millimeter um Millimeter enthüllte sie sich mir. Halbwegs hoffte ich, in einem weiteren Augenblick die Zellen ihrer Haut wie unter einem Mikroskop betrachten zu können, und mir schoss ein Gedanke durch den Kopf, etwas in Richtung der alten Sorge, ich hätte zu viel von meinem Vater geerbt. Aber die verging schnell, denn zugleich mit ihrem Körper wurde mir mein eigener bewusst. Das Gefühl verschlug mir fast den Atem. Ein Kribbeln breitete sich wie Feuer in mir aus. Das Ganze muss in weniger als dreißig Sekunden passiert sein. Und doch. Danach war ich in das Geheimnis eingeweiht, das am Anfang des Endes der Kindheit steht. Es dauerte Jahre, bis ich all die Freude und den Schmerz, die in weniger als einer halben Minute in mich eingezogen waren, verausgabt hatte.
Ohne noch ein Wort zu sagen, ließ sie die kaputte Motte fallen und rannte hinein. Die schwere Eisentür fiel mit einem dumpfen Knall hinter ihr ins Schloss.
Alma.
Es ist lange her, dass ich diesen Namen aussprach.
Ich beschloss, ihre Liebe zu gewinnen, um jeden Preis. Aber: Ich wusste genug, um nicht sogleich anzugreifen. In den folgenden Wochen beobachtete ich sie auf Schritt und Tritt. Geduld war immer eine meiner Tugenden gewesen. Einmal hielt ich mich vier volle Stunden unter dem Anbau hinter dem Haus des Rabbis versteckt, um herauszufinden, ob der berühmte zaddik , der aus Baranowitz zu Besuch gekommen war, wirklich scheißen musste wie jeder andere. Die Antwort war ja. In meiner Begeisterung für die gewöhnlichen Geheimnisse des Lebens schoss ich mit einem Bestätigungsschrei unter dem Anbau hervor. Dafür bekam ich fünf Schläge auf die Finger und musste auf Maiskolben knien, bis meine Knie blutig waren. Aber: Es hatte sich gelohnt.
Ich fühlte mich wie ein Spion, der in eine fremde Welt eindringt: das Reich des weiblichen Geschlechts. Unter dem Vorwand, Beweismittel zu sammeln, stahl ich Mrs. Stanislawskis enorme Unterhose von der Wäscheleine. Allein im Anbau, beschnüffelte ich sie nach Herzenslust. Ich vergrub mein Gesicht in der Mulde. Zog sie mir über den Kopf. Hielt sie hoch und schwenkte sie, bis sie sich in dem Lüftchen blähte wie die Flagge einer neuen Nation. Als meine Mutter die Tür aufmachte, war ich gerade bei der Anprobe. Ich hätte dreimal hineingepasst.
Mit einem tödlichen Blick – und der beschämenden Strafe, an Stanislawskis Tür klopfen und ihr die Unterhose zurückbringen zu müssen – setzte meine Mutter dem allgemeinen Teil meiner Forschungen ein Ende. Und doch. Ich fuhr im Besonderen fort. Und ich kundschaftete gründlich. Fand heraus, dass Alma das jüngste von vier Kindern war und der Liebling ihres Vaters. Brachte in Erfahrung, dass sie am 21. Februar Geburtstag hatte (also fünf Monate und achtundzwanzig Tage älter war als ich), dass sie die in Sirup eingelegten Sauerkirschen, die über die Grenze aus Russland eingeschmuggelt wurden, über alles liebte, dass sie einmal heimlich ein halbes Glas davon vernascht hatte und ihre Mutter, als sie es bemerkte, ihr auch die andere Hälfte zu essen gab, weil sie glaubte, ihr würde so schlecht davon, dass ihr das Kirschenessen auf immer verginge. Aber das tat es nicht. Sie aß das ganze Ding leer und prahlte obendrein vor einem Mädchen aus unserer Klasse, sie hätte noch mehr davon essen können. Ich wusste auch, dass sie nach dem Willen ihres Vaters Klavier spielen lernen sollte, aber Geige spielen wollte, und dass dieser Streit in der Schwebe blieb, weil beide Seiten auf ihrem Standpunkt beharrten, bis Alma einen leeren Geigenkasten in die Hand bekam (den sie, wie sie behauptete, ausrangiert am Straßenrand gefunden hatte) und anfing, ihn vor den Augen ihres Vaters herumzutragen, manchmal sogar zum Schein den Geigenbogen führend, bis der stete Tropfen schließlich den Stein höhlte, der Vater nachgab und Vorkehrungen traf, damit einer ihrer Brüder, der in Wilna aufs Gymnasium ging, von dort eine Geige mitbringen konnte, und dass die neue Geige in einem glänzenden schwarzen, mit lila Samt ausgeschlagenen Lederkasten ankam und jede Weise, die Alma auf ihr spielen lernte, und mochte sie
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