Die Geschichte der Liebe (German Edition)
wenn sie mir nicht ins Gesicht sehen wolle.
Ein paar Monate später rief sie wieder an. Sie bat mich, ihr einen Nachschlüssel zu machen. Ich freute mich für sie. Darüber, dass sie nicht mehr allein sein würde. Ich kann nicht sagen, dass ich mir deshalb leid getan hätte. Aber ich wollte ihr sagen: Es wäre einfacher für Sie, Sie würden ihn, den Mann, für den der Schlüssel ist, bitten, sich im Eisenwarenladen einen machen zu lassen. Und doch. Ich fertigte zwei Nachschlüssel an. Einen gab ich ihr, und einen behielt ich. Lange Zeit trug ich ihn in der Tasche, nur um so tun zu können als ob.
Eines Tages ging mir auf, dass ich mir überall Einlass verschaffen konnte. Daran hatte ich noch nie gedacht. Ich war ein Immigrant; es dauerte lange, bis die Furcht überwunden war, sie würden mich zurückschicken. Ich lebte in der Angst, einen Fehler zu machen. Einmal verpasste ich sechs Züge, weil ich nicht herausbekam, wie man nach einem Fahrschein fragt. Ein anderer wäre vielleicht einfach eingestiegen. Aber nicht ein Jude aus Polen, der deportiert zu werden fürchtet, wenn er auch nur vergisst, die Klospülung zu ziehen. Ich hielt den Kopf gesenkt. Ich schloss auf und zu, das war alles. Wo ich herkam, wäre ich ein Dieb gewesen, wenn ich Schlösser geknackt hätte, aber hier, in Amerika, war es mein Beruf.
Mit der Zeit wurde ich gelassener. Hier und dort setzte ich meiner Arbeit ein i-Tüpfelchen auf. Eine halbe Drehung am Ende, die überflüssig war, aber eine gewisse Eleganz besaß. Ich hörte auf, nervös zu sein, und wurde gerissen. Jedes Schloss, das ich einbaute, prägte ich mit meinen Initialen. Eine winzige Signatur über dem Schlüsselloch. Es machte nichts, dass niemand es je merken würde. Genug, dass ich es wusste. Ich blieb all den markierten Schlössern mit einem Stadtplan auf der Spur, den ich so oft auf- und zugefaltet hatte, dass manche Straßen in den Kniffen verschwunden waren.
Eines Abends ging ich ins Kino. Vor dem Hauptfilm lief ein Streifen über Houdini. Das war ein Mann, der sich in unterirdischer Versenkung aus einer Zwangsjacke befreien konnte. Sie steckten ihn in eine mit Ketten verschlossene Kiste, warfen sie ins Wasser, und schon tauchte er wieder auf. Es wurde gezeigt, wie er trainierte und dabei die Zeit stoppte. Er übte so lange, bis er es binnen Sekunden fertig brachte. Von da an machte meine Arbeit mich noch stolzer. Ich nahm die schwierigsten Schlösser mit nach Hause und zählte die Sekunden. Dann halbierte ich die Zeit und übte, bis ich es geschafft hatte. Ich machte weiter, bis meine Finger taub waren.
Ich lag im Bett und träumte von immer schwierigeren Aufgaben, als es mir dämmerte: Wenn ich das Schloss einer fremden Wohnung knacken konnte, warum dann nicht auch das von Kossar’s Bialys? Oder das der Stadtbücherei? Oder das von Woolworth? Und rein theoretisch, warum nicht das der … Carnegie Hall?
Die Gedanken jagten mir durch den Kopf, und mein Körper wurde kribblig vor Erregung. Ich würde nur einziges Mal reingehen und dann wieder hinaus, mehr nicht. Vielleicht noch eine kleine Signatur.
Ich plante wochenlang. Erkundete das Gebäude. Ließ kein Detail unbeachtet. Es reicht wohl zu sagen: Ich tat’s. In den frühen Morgenstunden durch die Bühnentür an der 56 th Street. Ich brauchte 103 Sekunden. Zu Hause schaffte ich das gleiche Schloss in 48. Aber draußen war es kalt, und meine Finger waren klamm.
Der große Arthur Rubinstein sollte an diesem Abend spielen. Der Flügel stand allein auf der Bühne, ein schwarz polierter Steinway. Ich trat hinter den Vorhängen hervor. Nur die endlosen Sitzreihen waren im Schein der Exit-Leuchtzeichen zu erkennen. Ich setzte mich auf den Hocker und trat mit der Fußspitze ein Pedal. Ich wagte nicht, die Finger auf die Tasten zu legen.
Als ich aufblickte, stand sie da. Klar und deutlich, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Haar zu einem Zopf geflochten, keine zwei Meter von mir entfernt. Sie hob ihre Geige, jene, die ihr Bruder ihr aus Wilna mitgebracht hatte, und senkte das Kinn. Ich versuchte, ihren Namen zu sagen. Aber: Er blieb mir im Hals stecken. Im Übrigen wusste ich, dass sie mich nicht hören konnte. Sie setzte den Bogen an. Ich hörte die ersten Töne des Dvorák. Ihre Augen waren geschlossen. Die Musik floss ihr aus den Fingern. Sie spielte sie fehlerfrei, wie nie in ihrem Leben.
Als der letzte Ton verklang, war sie schon fort. Mein Klatschen hallte im leeren Saal wider. Ich stellte es ein, und die Stille
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