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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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noch so traurig sein, den unverkennbaren Klang eines Triumphliedes besaß. Das wusste ich, weil ich sie spielen hörte, während ich draußen vor ihrem Fenster stand und mit der gleichen Inbrunst, mit der ich auf des großen zaddiks Schiss gewartet hatte, darauf wartete, dass sich mir das Geheimnis ihres Herzens offenbarte.
    Aber: Es geschah nicht. Eines Tages kam sie um die Hausecke marschiert und baute sich vor mir auf. Ich habe dich in den letzten Wochen jeden Tag hier draußen gesehen, und jeder weiß, dass du mich in der Schule den ganzen Tag anstarrst. Wenn du mir also etwas sagen willst, warum sagst du es mir nicht einfach ins Gesicht, statt herumzuschleichen wie ein Unhold? Ich erwog meine Möglichkeiten. Entweder konnte ich wegrennen und nie wieder in die Schule gehen, vielleicht sogar außer Landes, mich als blinder Passagier nach Australien einschiffen. Oder alles riskieren und ihr ein Geständnis machen. Die Antwort lag auf der Hand: Ich ging nach Australien. Ich öffnete den Mund, um ihr für immer adieu zu sagen. Und doch. Was ich dann sagte, war: Ich wollte fragen, ob du mich heiraten willst.
    Sie verzog keine Miene. Aber: Ihre Augen hatten denselben Glanz, den sie annahmen, wenn sie ihre Geige aus dem Kasten holte. Ein langer Augenblick verging. Wir starrten uns Aug in Auge an. Ich werde mal drüber nachdenken , sagte sie schließlich und marschierte um die Ecke zurück. Ich hörte die Tür knallen. Einen Augenblick später: die Anfangstöne von Dvoráks Als die Mutter mich noch lehrte singen . Und obwohl sie nicht ja gesagt hatte, wusste ich von da an, dass ich eine Chance hatte.
    Das, um es kurz zu sagen, war das Ende meiner Beschäftigung mit dem Tod. Nicht, dass ich aufhörte, ihn zu fürchten. Ich hörte nur auf, an ihn zu denken. Wenn mir außer den Gedanken an Alma irgendein Rest Zeit geblieben wäre, hätte ich mir vielleicht Sorgen um den Tod gemacht. Aber die Wahrheit ist, dass ich lernte, eine Mauer gegen diese Art Gedanken zu errichten. Jedes Detail, das ich über die Welt erfuhr, war ein Stein in dieser Mauer, bis ich eines Tages begriff, dass ich mich selbst von einem Ort ausgeschlossen hatte, an den ich nicht mehr zurückkonnte. Und doch. Die Mauer schützte mich auch vor der schmerzlichen Klarheit der Kindheit. Selbst während der Jahre, die ich mich im Wald versteckte, in Bäumen, Löchern und Kellern, mit dem Atem des Todes im Nacken, dachte ich nicht über die Wahrheit nach: dass ich sterben musste. Erst nach meinem Herzinfarkt, als die Steine der Mauer, die mich von der Kindheit trennten, schließlich zu bröckeln begannen, kehrte die Angst vor dem Tod zurück. Und war genauso furchtbar wie immer.
     
    Mit gebeugtem Rücken saß ich über den Unglaublichen, phantastischen Abenteuern des zahnlosen Wundermädchens Frankie von einem Leopold Gursky, der nicht ich war. Ich klappte den Buchdeckel nicht auf. Ich lauschte dem Regen, der durch die Dachrinnen floss.
    Ich verließ die Bücherei. Als ich die Straße überquerte, schlug mir brutale Einsamkeit entgegen. Ich fühlte mich trostlos und leer. Allein gelassen, unbemerkt, vergessen stand ich auf dem Bürgersteig, ein Nichts, ein Staubsammler. Menschen eilten an mir vorbei. Und jeder, der vorüberging, war glücklicher als ich. Ich spürte den alten Neid. Hätte alles gegeben, um einer von ihnen zu sein.
    Ich kannte einmal eine Frau. Sie hatte sich ausgeschlossen, und ich half ihr. Sie hatte eine meiner Karten gesehen, die ich überall wie Brosamen verstreute. Sie rief an, und ich kam so schnell ich konnte. Es war Thanksgiving, und niemand brauchte auszusprechen, dass keiner von uns wusste, wohin er mit sich sollte. Das Schloss sprang auf, sobald ich Hand anlegte. Sie mag geglaubt haben, das sei das Zeichen für eine andere Begabung. Drinnen ein in der Luft hängender Geruch von gebratenen Zwiebeln, ein Poster von Matisse, oder vielleicht Monet. Nein! Modigliani. Ich erinnere mich, weil eine nackte Frau darauf war, und um ihr zu schmeicheln, sagte ich: Sind Sie das? Es war lange her, dass ich mit einer Frau zusammen gewesen war. Ich roch das Schmierfett an meinen Händen und den Achselschweiß. Sie lud mich ein und kochte uns ein Essen. Ich entschuldigte mich, um mir das Haar zu kämmen und mich behelfsmäßig im Bad zu waschen. Als ich wieder herauskam, stand sie in ihrer Unterwäsche im Dunkeln. Auf der Straßenseite gegenüber war ein Neonschild und warf einen blauen Schatten auf ihre Beine. Ich wollte ihr sagen, es sei in Ordnung,

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