Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
den zärtlichsten Liebkosungen überhäuft und dass sie die meinen mit Verzückung empfangen hatte; ich kannte mein eigenes Herz nicht so gut wie das ihre. Nein, nein, sagte ich mir immer wieder, es ist nicht möglich, dass Manon mich hintergeht. Es ist ihr nicht unbekannt, dass ich nur für sie lebe. Sie weiß sehr wohl, dass ich sie abgöttisch liebe. Das kann doch kein Grund sein, mich zu hassen.
Doch wusste ich mir den Besuch und den heimlichen Aufbruch von Monsieur de B… nicht zu erklären. Es fielen mir nun die kleinen Anschaffungen Manons ein, die mir unsere Verhältnisse zu übersteigen schienen. Das sah doch eher nach der Freigebigkeit eines neuen Liebhabers aus. Und jene Zuversicht, die sie hinsichtlich der Mittel gezeigt hatte, deren Herkunft mir unbekannt waren! Es fiel mir schwer, für all diese Rätsel die vorteilhafte Lösung zu finden, die mein Herz sich wünschte.
Andererseits hatte ich Manon, seit wir in Paris waren, fast gar nicht aus den Augen gelassen. Ob bei Besorgungen, Spazierfahrten oder Lustbarkeiten, wir waren ja immer zusammen gewesen; mein Gott, selbst ein kurzer Moment der Trennung hätte uns nur allzu sehr gequält! Wir mussten einander ja unaufhörlich sagen, dass wir einander liebten; sonst hätte uns der Kummer schier umgebracht. Ich konnte mir daher kaum einen Moment vorstellen, in dem Manon sich mit einem anderen als mir hätte befassen können.
Schließlich meinte ich, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Monsieur de B…, so sagte ich mir, ist jemand, der umfangreiche Geschäfte tätigt und vielerlei Beziehungen hat; die Eltern Manons werden sich an diesen Mann gewandt haben, um ihr etwas Geld zukommen zu lassen. Sie hat vielleicht schon früher etwas von ihm erhalten; heute ist er gekommen, um ihr weiteres zu bringen. Zweifellos hat sie sich ein Vergnügen daraus gemacht, mir das zu verheimlichen, um mir eine schöne Überraschung zu bereiten. Vielleicht hätte sie mir davon erzählt, wenn ich wie sonst heimgekehrt wäre, statt hierherzukommen und mich zu zermartern; zumindest wird sie es mir nicht verheimlichen, wenn ich selbst mit ihr darüber spreche.
Am Ende klammerte ich mich so fest an diese Deutung, dass sie stark genug war, meine Traurigkeit beträchtlich zu lindern. Ich kehrte auf der Stelle in die Wohnung zurück. Ich küsste Manon mit gewohnter Zärtlichkeit. Sie empfing mich aufs Trefflichste. Zuerst war ich versucht, ihr meine Mutmaßungen offenzulegen, die ich immer mehr als Gewissheit ansah; ich hielt mich aber zurück, da ich hoffte, sie würde mir schließlich zuvorkommen und alles berichten, was geschehen war.
Das Nachtmahl wurde aufgetragen. Ich setzte mich mit recht fröhlicher Miene zu Tisch; doch beim Licht der Kerze, die sich zwischen ihr und mir befand, glaubte ich, auf dem Antlitz und in den Augen meiner teuren Geliebten eine gewisse Traurigkeit wahrzunehmen. Dieser Eindruck erweckte dasselbe Gefühl in mir. Mir fiel auf, dass sie mich anders ansah als gewöhnlich. Ich konnte nicht unterscheiden, ob es aus Liebe oder aus Mitleid geschah, wenngleich mir schien, dass es eine sanfte und wehmütige Empfindung war. Ich blickte sie mit der gleichen Anteilnahme an; und vielleicht hatte sie ja nicht weniger Mühe, die Befindlichkeit meines Herzens aus meinen Blicken zu erschließen. Wir vermochten weder zu sprechen noch zu essen. Schließlich sah ich, wie Tränen aus ihren schönen Augen herabfielen: trügerische Tränen!
«Ach Gott», so rief ich, «Sie weinen, meine teure Manon; Sie sind zu Tränen bekümmert, und Sie sagen mir mit keinem Wort, was Sie schmerzt.»
Sie antwortete lediglich mit einigen Seufzern, die mich nur noch mehr in Unruhe versetzten. Da erhob ich mich bebend und beschwor sie mit der ganzen Inständigkeit meiner Liebe, mir den Grund für ihr Weinen zu nennen. Ich vergoss eigene Tränen, während ich die ihren abtupfte; ich war mehr tot als lebendig. Selbst ein Barbar hätte sich durch die Bezeugungen meines Schmerzes und meiner Befürchtungen rühren lassen.
Während ich sie so umsorgte, hörte ich mehrere Personen die Treppe heraufsteigen. Man klopfte sanft an die Tür. Manon gab mir einen Kuss, und indem sie sich meinen Armen entwand, verschwand sie rasch im Nebenzimmer, das sie sogleich hinter sich verschloss. Ich nahm an, dass sie sich den Blicken der Fremden, die geklopft hatten, entziehen wollte, da sie ein wenig zerzaust war.
Ich ging also selbst hin, um ihnen zu öffnen. Kaum hatte ich aufgemacht, als mich auch schon
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