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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manesse-Verlag
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einem Mal mein Gemüt beruhigte, und ich staunte, dass ich nicht eher auf ihn verfallen war, nämlich mich an meinen Freund Tiberge zu wenden, bei dem ich, dessen war ich mir gewiss, nach wie vor die gleiche Ergebenheit und Freundschaft finden würde.
    Nichts ist bewunderungswürdiger und macht der Tugend mehr Ehre als das Vertrauen, mit dem man sich an Menschen wenden kann, von deren Redlichkeit man zutiefst überzeugt ist. Sie lassen einen spüren, dass nichts Böses zu befürchten ist. Sind sie auch nicht immer imstande, Hilfe zu leisten, so darf man doch sicher sein, zumindest auf Güte und Mitgefühl zu treffen. Das Herz, das sich der übrigen Menschheit so sorgsam verschließt, öffnet sich in ihrer Gegenwart naturgemäß, wie eine Blüte sich im Licht der Sonne entfaltet, von der sie nur wohltuenden Einfluss erwartet.
    Ich schrieb es dem mir vom Himmel gewährten Schutz zu, dass ich mich zur rechten Zeit an Tiberge erinnerte, und ich beschloss, alles daran zu setzen, um ihn noch vor Tagesende zu treffen. Ich kehrte auf der Stelle in die Wohnung zurück, um ihm eine Nachricht zu schreiben und einen für unsere Unterredung geeigneten Ort anzugeben. Ich legte ihm ans Herz, Stillschweigen und Diskretion zu wahren – einer der wichtigsten Dienste, die er mir angesichts des Standes meiner Angelegenheiten leisten könne.
    Die Freude, die mir die Hoffnung, ihn zu sehen, bereitete, verwischte die Spuren des Kummers, den Manon unweigerlich auf meinem Gesicht wahrgenommen hätte. Ich stellte ihr unser Unglück von Chaillot als eine Bagatelle dar, über die sie sich nicht zu beunruhigen brauche; und da Paris der Ort auf der Welt war, an dem sie sich am liebsten aufhielt, war sie nicht ungehalten darüber, als ich ihr sagte, es sei angebracht, dort zu bleiben, bis einige leichte Folgen des Brandes in Chaillot beseitigt seien.
    Eine Stunde später erhielt ich Antwort von Tiberge, der mir versprach, sich am Ort der Verabredung einzufinden. Voller Ungeduld eilte ich dorthin. Gleichwohl empfand ich so etwas wie Scham darüber, vor den Augen eines Freundes zu erscheinen, dessen schiere Gegenwart schon einen Tadel meiner Verfehlungen darstellen musste, doch die hohe Meinung, die ich von seiner Herzensgüte hegte, und das Wohl Manons beförderten meine Kühnheit.
    Ich hatte ihn gebeten, sich im Garten des Palais Royal einzufinden. Er war schon vor mir dort. Sobald er mich sah, umarmte er mich. Er hielt mich lange in seine Arme gepresst, und ich spürte, wie mein Gesicht von seinen Tränen feucht wurde. Ich sagte, dass ich ihm in größter Verlegenheit gegenüberträte und mich das Gefühl meiner Undankbarkeit heftig bedrücke; vor allem würde ich ihn beschwören, mich wissen zu lassen, ob ich ihn noch als meinen Freund betrachten dürfe, nachdem ich es gerechterweise verdient hätte, seine Wertschätzung und seine Liebe zu verlieren.
    Er antwortete in sanftestem Ton, nichts könne ihn dazu bringen, mir seine Freundschaft aufzukündigen; gerade mein Unglück und, wenn ich ihm dies zu sagen gestatte, meine Vergehen und Verfehlungen hätten seine Zuneigung zu mir nur umso größer werden lassen; doch es sei eine mit heftigstem Schmerz vermischte Zuneigung, wie man sie für einen teuren Menschen empfinde, den man in sein Verhängnis eilen sieht, ohne ihm helfen zu können.
    Wir setzten uns auf eine Bank. «Ach», sagte ich mit einem Seufzer, der vom Grunde meines Herzens kam, «Ihr Mitgefühl muss über die Maßen groß sein, mein lieber Tiberge, wenn Sie mir versichern, dass es meinen Schmerzen gleichkommt. Ich schäme mich, sie Ihnen zu offenbaren, denn ich gestehe, dass sie keine rühmliche Ursache haben, doch ist ihre Wirkung so traurig, dass man mich gar nicht so sehr lieben muss, wie Sie es tun, um davon angerührt zu werden.»
    Er forderte mich auf, ihm als Zeichen der Freundschaft unverhohlen zu erzählen, wie es mir ergangen sei, seit ich Saint-Sulpice verlassen hatte. Ich kam seiner Bitte nach; und weit davon entfernt, etwas an der Wahrheit zu verändern oder meine Verfehlungen zu schmälern, um sie verzeihlicher erscheinen zu lassen, sprach ich zu ihm von meiner Leidenschaft mit der ganzen Kraft, die sie in mir hervorrief. Ich stellte sie als einen jener besonderen Schicksalsschläge dar, die einen Elenden bis in sein Verderben treiben und gegen die die Tugend sich ebenso wenig wehren kann wie die Klugheit sie vorherzusehen vermag.
    Ich bedachte ihn mit einer lebhaften Schilderung meines inneren Aufruhrs, meiner

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