Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
gekommen seien, solch ein Durcheinander gegeben, dass sie es nicht mit Gewissheit sagen könne.
Ich fürchtete um unser Geld, das in einer kleinen Kassette verwahrt war. Ich begab mich sogleich nach Chaillot. Die Eile war unnütz; die Kassette war bereits verschwunden. Auf diese Weise machte ich die Erfahrung, dass man Geld auch lieben kann, ohne geizig zu sein. Der Verlust setzte mir so schmerzlich zu, dass ich meinte, den Verstand darüber zu verlieren. Ich begriff sofort, welch neuen bösen Geschicken ich mich ausgeliefert sehen würde. Die Armut war das Geringste.
Ich kannte Manon; war sie mir auch treu und ergeben, wenn es uns gut ging, so hatte ich ja hinreichend erfahren, dass im Elend auf sie nicht zu zählen war. Sie liebte Überfluss und Lustbarkeiten zu sehr, um ihrer meinetwegen zu entsagen. «Ich werde sie verlieren», rief ich. «Unglücklicher Chevalier, so wirst du wiederum alles verlieren, was du liebst!»
Dieser Gedanke bereitete mir derart entsetzliche Qualen, dass ich einige Augenblicke lang schwankte, ob ich nicht am besten daran täte, all meinem Leiden durch den Tod ein Ende zu setzen. Jedoch bewahrte ich so viel an Geistesgegenwart, dass ich vorerst darüber nachsinnen wollte, ob mir nicht andere Mittel und Wege verblieben.
Der Himmel bescherte mir eine Eingebung, die meiner Verzweiflung Einhalt gebot. Ich meinte, es wäre mir nicht unmöglich, unseren Verlust vor Manon geheim zu halten, und ich könne durch Fleiß oder günstiges Geschick einigermaßen ehrenhaft für ihren Unterhalt sorgen, sodass sie keine Not zu verspüren brauchte. «Ich habe ja errechnet», so sagte ich mir, um mich zu trösten, «dass wir mit zwanzigtausend Ecu zehn Jahre lang auskommen könnten. Angenommen, die zehn Jahre seien verflossen und keiner der Wechselfälle, auf die ich hoffte, sei in meiner Familie eingetreten. Auf welche Lösung würde ich verfallen? Genau weiß ich das nicht, doch wer hindert mich, was ich dann tun würde, schon heute zu tun? Wie viele Menschen leben in Paris, die weder meinen Geist noch meine natürlichen Begabungen besitzen und die nichtsdestoweniger mit ihren bescheidenen Talenten ihren Unterhalt bestreiten! Hat die Vorsehung», so setzte ich hinzu, während ich über die unterschiedlichen Lebensverhältnisse nachdachte, «die Dinge nicht äußerst weise eingerichtet? Die Mächtigen und Reichen sind in ihrer Mehrheit Dummköpfe: Wer die Welt ein wenig kennt, weiß das. Darin liegt eine bewundernswerte Gerechtigkeit: Wenn sich zu ihren Reichtümern auch noch Geist gesellte, wären sie gar zu glücklich und die übrigen Menschen gar zu elend. Drum war es diesen gegeben, sich durch besondere Fähigkeiten des Leibes und der Seele dem Elend und der Armut zu entringen. Die einen sind Nutznießer der Reichtümer der Mächtigen, indem sie deren Lustbarkeiten dienen: Sie halten sie zum Narren; andere dienen ihrer Bildung: Sie versuchen, aus ihnen ehrenhafte Menschen zu machen; in Wahrheit gelingt es ihnen nur selten, aber das ist auch nicht das Ziel der göttlichen Weisheit: Dennoch tragen ihre Bemühungen Früchte, denn sie leben auf Kosten derer, die sie unterrichten; und wie immer man es auch hält, die Dummheit der Reichen und Großen ist eine ausgezeichnete Einnahmequelle für die Kleinen.»
Diese Gedanken rückten mir Herz und Kopf wieder einigermaßen zurecht. Ich beschloss zunächst, Monsieur Lescaut, den Bruder Manons, zurate zu ziehen. Er kannte Paris wie kein Zweiter, und ich hatte nur allzu häufig Gelegenheit gehabt zu bemerken, dass er den größten Teil seiner Einkünfte weder seinem Vermögen noch dem Sold des Königs verdankte. Mir blieben nur knapp zwanzig Pistolen, die sich glücklicherweise in meiner Tasche befunden hatten. Ich zeigte ihm meinen Geldbeutel, während ich ihm mein Unglück und meine Befürchtungen erklärte, und ich fragte ihn, ob mir eine andere Wahl bleibe als Hungers zu sterben oder mir vor Verzweiflung den Schädel einzurennen.
Er antwortete, sich den Schädel einzurennen sei ein Ausweg für Dummköpfe; und was Hungers zu sterben angehe, so gebe es eine Menge Leute von Geist, die dem wohl ausgeliefert wären, weil sie von ihren Talenten keinen Gebrauch machen wollten; es sei an mir zu überlegen, wozu ich fähig sei; doch könne ich bei all meinen Unternehmungen seines Beistands und seiner Ratschläge gewiss sein.
«Das ist ziemlich vage, Monsieur Lescaut», gab ich zur Antwort. «Meine Bedürfnisse erfordern eine unmittelbarere Abhilfe, denn was soll
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