Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Verzweiflung. Welch trostlose Erniedrigung, zum Gespött aller zu werden, die ich kannte, und zum Schandmal meiner Familie. So brachte ich acht Tage in tiefster Niedergeschlagenheit zu, ohne dass ich irgendetwas wahrzunehmen noch an etwas anderes als meine Schmach zu denken vermochte. Selbst die Erinnerung an Manon hatte keinen Anteil an diesem Schmerz. Sie kam allenfalls wie ein Gefühl hinzu, das dieser neuen Qual vorangegangen war, während nun Scham und Verstörung die Affekte waren, die meine Seele beherrschten. Es gibt nur wenige, die die Macht dieser besonderen Herzensregungen kennen. Gewöhnliche Menschen empfinden gerade mal fünf oder sechs Affekte, in deren Umkreis sich ihr Leben abspielt und auf die sich alle ihre Gemütsbewegungen beschränken. Nehmen Sie ihnen die Liebe und den Hass, die Lust und den Schmerz, die Hoffnung und die Furcht, dann empfinden sie nichts mehr. Doch Menschen nobleren Charakters können auf tausenderlei Weise ergriffen sein; es scheint, dass sie mehr als nur fünf Sinne haben und dass sie für Vorstellungen und Empfindungen empfänglich sind, die über die normalen Schranken der Natur hinauswachsen; und da sie ein Gespür haben für jene Größe, die sie über den Pöbel erhebt, gibt es nichts, auf das sie eifriger bedacht sind. Daher rührt es denn auch, dass Verachtung und Spott ihnen so schmerzlich sind und dass die Scham einen ihrer heftigsten Affekte darstellt.
Diesen traurigen Vorzug genoss ich in Saint-Lazare. Meine Trübsal erschien dem Abt so maßlos, dass er aus Furcht vor den Folgen mich mit viel Milde und Nachsicht behandeln zu müssen glaubte. Er stattete mir zwei- oder dreimal am Tag einen Besuch ab. Oft nahm er mich mit auf einen Gang durch den Garten und verausgabte sich in seinem Eifer mit Ermahnungen und erbaulichen Ratschlägen. Ich nahm sie mit Sanftmut entgegen, ja, ich zeigte sogar eine gewisse Dankbarkeit. Das machte ihm Hoffnung auf meine Bekehrung.
«Sie haben ein so sanftes und so liebenswürdiges Naturell», sagte er eines Tages zu mir, «dass ich die Sittenlosigkeit gar nicht begreifen kann, die man Ihnen zur Last legt. Zwei Dinge erstaunen mich: zum einen nämlich, wie Sie sich, ausgestattet mit diesen guten Eigenschaften, den Auswüchsen der Libertinage haben ergeben können, und zum anderen, und das verwundert mich noch mehr, wie bereitwillig Sie meine Ratschläge und meine Belehrungen entgegennehmen, nachdem Sie doch jahrelang sittenlosen Gepflogenheiten nachgegangen sind. Wenn es Reue ist, dann sind Sie ein bemerkenswertes Beispiel für himmlisches Erbarmen; wenn es natürliche Güte ist, dann haben Sie zumindest eine hervorragende charakterliche Grundlage, die mich hoffen lässt, dass wir Sie nicht allzu lange hierbehalten müssen, um Sie zu einem ehrbaren und geregelten Leben zurückzuführen.»
Ich sah mit großer Freude, dass er diese Meinung von mir hatte. Ich beschloss, ihn darin zu bestärken, und verhielt mich so, dass er vollkommen zufrieden war, denn ich war überzeugt, es sei das sicherste Mittel, um meine Gefangenschaft zu verkürzen. Ich bat ihn um Bücher. Er überließ mir die Wahl dessen, was ich lesen wollte, und war überrascht, dass ich mich für einige ernsthafte Autoren entschied. Ich gab vor, mich mit äußerster Hingabe dem Studium zu widmen, und bot ihm auf diese Weise bei jeder Gelegenheit Beweise für den Wandel, den er wünschte.
Dabei war dieser nur äußerlich. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Saint-Lazare die Rolle eines Heuchlers spielte. War ich allein, so gab ich mich, statt zu studieren, der Klage über mein Schicksal hin; ich fluchte meinem Gefängnis und der Tyrannei, die mich dort festhielt. Kaum hatte die Niedergeschlagenheit, in die mich meine Schande geworfen hatte, ein wenig nachgelassen, da verfiel ich aufs Neue den Qualen der Liebe. Die Abwesenheit Manons, die Ungewissheit darüber, was aus ihr geworden war, die Angst, sie niemals wiederzusehen, nur darum ging es in meinen trübseligen Grübeleien. Ich stellte sie mir in den Armen von Monsieur de G… M… vor, denn das war der Gedanke, den ich als Erstes hatte; und weit davon entfernt, mir auszumalen, dass er ihr dieselbe Behandlung zuteilwerden ließ wie mir, war ich überzeugt, er habe mich entfernen lassen, um sie ungestört zu besitzen.
So verbrachte ich Tage und Nächte, die mir ewig zu währen schienen. Meine einzige Hoffnung lag darin, dass ich mit meiner Heuchelei Erfolg hatte. Ich achtete geflissentlich auf Miene und
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