Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
kam auf nichts, was mir einen sicheren Ausbruch gewährleistet hätte, und ich fürchtete, noch strenger bewacht zu werden, wenn ein Versuch scheiterte. Ich rief mir die Namen gewisser Freunde in Erinnerung, von denen ich Hilfe erhoffen konnte; doch welch Mittel hatte ich, sie von meiner Situation in Kenntnis zu setzen? Endlich glaubte ich, einen so geschickten Plan geschmiedet zu haben, dass er glücken konnte, und ich beabsichtigte, ihn nach der Rückkehr des Abtes noch weiter auszufeilen, falls die Vergeblichkeit seines Vorstoßes es erforderlich machen sollte.
Er war bald zurück. Auf seinem Gesicht war kein Anzeichen von Freude zu sehen, wie sie eine gute Nachricht begleitet. «Ich habe», so sagte er, «mit dem Herrn Generalleutnant der Polizei gesprochen, doch habe ich zu spät mit ihm gesprochen. Monsieur de G… M… hat ihn nach seinem Aufbruch von hier sogleich aufgesucht und ihn so sehr vor Ihnen gewarnt, dass er im Begriff stand, mir neue Anweisungen zu schicken, um Sie in noch strengeren Gewahrsam zu nehmen.
Als ich ihm aber den Kern Ihrer Angelegenheit geschildert hatte, schien er sehr viel milder gestimmt, und während er sich ein wenig über die Ausschweifungen des alten Monsieur de G… M… lustig machte, sagte er mir, es sei nötig, Sie sechs Monate hierzubehalten, um ihn zufriedenzustellen; umso mehr, so sagte er, als dieser Aufenthalt Ihnen nicht unnütz sein werde. Er empfahl mir, Sie gebührlich zu behandeln, und ich verbürge mich dafür, dass Sie über meinen Umgang mit Ihnen nicht zu klagen haben werden.»
Diese Ausführungen des guten Abtes waren lang genug, dass sie mir Zeit ließen, vernünftige Überlegungen anzustellen. Mir ging auf, dass ich Gefahr lief, meine Pläne zu vereiteln, wenn ich ihm gegenüber allzu eifrig auf meine Freilassung drängte. Ich bedeutete ihm also im Gegenteil, dass es mir, wenn ich denn bleiben müsse, ein willkommener Trost sei, in seiner Hochachtung zu stehen. Daraufhin bat ich ihn ohne weitere Umstände, mir eine Gunst zu gewähren, die für niemanden Bedeutung habe, aber zu meiner Beruhigung sehr viel beitragen könne, nämlich einem meiner Freunde, einem wackeren Mann der Kirche, der sich in Saint-Sulpice befinde, mitzuteilen, dass ich mich in Saint-Lazare befinde, und zu erlauben, dass ich gelegentlich Besuch von ihm erhielte. Diese Vergünstigung wurde mir ohne Weiteres gewährt.
Es handelte sich um meinen Freund Tiberge; nicht dass ich von ihm die nötige Hilfe für meine Befreiung erhofft hätte, doch ich wollte mich seiner als eines indirekten Instruments bedienen, ohne dass er es selbst bemerken würde. Mit einem Wort, das war mein Plan: Ich wollte an Lescaut schreiben und ihn beauftragen, mich mit Hilfe unserer gemeinsamen Freunde zu befreien. Die erste Schwierigkeit bestand darin, ihm meinen Brief zukommen zu lassen; das sollte Tiberges Aufgabe sein. Da er Lescaut jedoch als Bruder meiner Geliebten kannte, fürchtete ich, er werde diesen Auftrag kaum übernehmen. Meine Absicht war, den Brief an Lescaut in einen weiteren Brief einzulegen, ihn an einen Bekannten, einen ehrlichen Mann, zu adressieren und diesen darin zu bitten, den ersteren unverzüglich an die gegebene Adresse weiterzuleiten; und da es nötig war, Lescaut zu treffen, um unser Vorgehen abzustimmen, wollte ich ihm bedeuten, er solle nach Saint-Lazare kommen und sich als mein älterer Bruder ausgeben, der mich sehen wolle, da er eigens nach Paris gekommen sei, um sich nach meinen Angelegenheiten zu erkundigen. Mit ihm wollte ich mich dann hinsichtlich der Mittel abstimmen, die uns am wirksamsten und am sichersten schienen.
Der Abt gab Tiberge Nachricht von meinem Wunsch, ihn zu sehen. Dieser treue Freund hatte mich nicht so weit aus den Augen verloren, dass er in Unkenntnis meines Schicksals gewesen wäre; er wusste, dass ich in Saint-Lazare war, und vielleicht war er über diese Schande nicht einmal aufgebracht, da er sie für geeignet halten mochte, mich zur Besinnung zu bringen. Schon bald suchte er mich in meiner Kammer auf.
Unser Gespräch war ganz und gar freundschaftlich. Er wollte über mein Befinden unterrichtet werden. Ich öffnete ihm mein Herz ohne Vorbehalte, meinen Fluchtplan ausgenommen. «In Ihren Augen, lieber Freund», sagte ich zu ihm, «möchte ich nicht als jemand erscheinen, der ich nicht bin. Wenn Sie geglaubt haben, hier einen in seinen Wünschen vernünftig und bedacht gewordenen Freund anzutreffen, einen Freigeist, der durch die Züchtigungen des Himmels
Weitere Kostenlose Bücher