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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manesse-Verlag
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Einfalt; doch als sie sah, dass meine Blicke immer noch traurig auf sie geheftet blieben und welche Mühe es mir bereitete, einen Wandel zu verkraften, der meinem Naturell und meinen Wünschen so sehr zuwiderlief, ging sie allein in ihr Kabinett. Ich folgte ihr kurz danach und fand sie in Tränen aufgelöst; ich fragte sie, warum sie weine.
    «Das ist leicht zu verstehen», sagte sie, «wie soll ich deiner Meinung nach leben, wenn mein Anblick dich nur noch finster und verdrießlich dreinschauen lässt? Du bist jetzt seit einer Stunde hier und hast mich nicht ein einziges Mal liebkost, und meine Zärtlichkeiten hast du mit der Erhabenheit des Großtürken im Serail entgegengenommen.»
    «Hören Sie, Manon», sagte ich und umarmte sie, «ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass mein Herz zu Tode bekümmert ist. Ich spreche jetzt nicht von dem Entsetzen, in das mich Ihre unvorhergesehene Flucht gestürzt hat, und nicht von der Grausamkeit, die Sie besessen haben, mich ohne ein Wort des Trostes im Stich zu lassen, nachdem Sie die Nacht in einem anderen Bett als ich verbracht hatten. Der Zauber Ihrer Gegenwart könnte mich noch vieles mehr vergessen machen. Aber glauben Sie, ich könnte ohne Seufzer, ja, ohne Tränen», fuhr ich fort und musste dabei solche vergießen, «an das traurige und unglückliche Leben denken, das ich Ihrem Willen gemäß in diesem Haus führen soll? Lassen wir meine Herkunft und meine Ehre beiseite, derlei schwache Erwägungen können einer Liebe wie der meinen das Feld nicht mehr streitig machen; aber eben diese Liebe selbst – können Sie sich denn nicht vorstellen, wie sie wehklagt, da sie sich so schlecht gelohnt sieht oder vielmehr so grausam behandelt wird von einer undankbaren und herzlosen Geliebte n …?»
    Sie unterbrach mich: «Halten Sie ein, mein Chevalier, es ist unnütz, mich mit Vorwürfen zu quälen, die mir das Herz brechen, da sie von Ihnen kommen. Ich verstehe, was Sie verletzt. Ich hatte gehofft, dass Sie dem Plan zustimmen würden, den ich mir ausgedacht habe, um wieder zu ein wenig Vermögen zu kommen, und ich habe ohne Ihre Beteiligung mit der Ausführung begonnen, um Ihr Zartgefühl zu schonen; doch ich verfolge ihn nicht weiter, da Sie ihn missbilligen.»
    Sie setzte hinzu, dass sie von mir nur noch für den Rest dieses Tages ein wenig Entgegenkommen verlange; sie habe schon zweihundert Pistolen von ihrem greisen Liebhaber erhalten, darüber hinaus habe er versprochen, ihr am Abend ein schönes Perlencollier und andere Schmuckstücke mitzubringen und obendrein die Hälfte der jährlichen Zuwendung, die er ihr versprochen habe.
    «Lassen Sie mir lediglich die Zeit», so sagte sie, «seine Geschenke entgegenzunehmen; ich schwöre Ihnen, dass er sich keiner Gunst brüsten kann, die ich ihm gewährt hätte, denn ich konnte ihn bislang auf die Stadt vertrösten. Gewiss, er hat mir unzählige Male die Hände geküsst; es ist nur gerecht, dass er für dieses Vergnügen zahlt, und fünf- oder sechstausend Franc sind dafür nicht zu viel, wenn man den Preis ins Verhältnis setzt zu seinem Reichtum und seinem Alter.»
    Ihr Entschluss war mir viel willkommener als die Hoffnung auf fünftausend Livre. Ich hatte Anlass festzustellen, dass mein Herz noch nicht alles Ehrgefühl verloren hatte, war es doch gar so zufrieden, der Schande zu entgehen. Doch ich bin für kurze Freuden und langwährende Qualen geboren. Das Schicksal errettete mich aus dem einen Abgrund, nur um mich in einen anderen stürzen zu lassen. Nachdem ich Manon mit tausenderlei Zärtlichkeiten gezeigt hatte, wie glücklich ich mich ob ihres Sinneswandels schätzte, sagte ich ihr, es gelte Monsieur Lescaut davon zu unterrichten, damit wir gemeinsam handeln könnten.
    Er murrte zunächst darüber; doch eingedenk der vier- oder fünftausend Livre Bargeld schloss er sich fröhlich unserer Meinung an. Es wurde also ausgemacht, dass wir uns allesamt zum Nachtmahl bei Monsieur de G… M… einfinden sollten, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, um uns das Vergnügen einer netten Szene zu gönnen, in der wir mich als einen Schuljungen und Bruder Manons ausgaben; zum anderen, um den alten Lüstling daran zu hindern, dass er sich meiner Geliebten gegenüber allzu viele Freiheiten erlaubte, weil er möglicherweise meinte, er habe sich das Recht dazu erworben, da er so großzügig im Voraus bezahlt hatte. Wir, also Lescaut und ich, sollten uns zurückziehen, sobald er in das Zimmer hinaufging, wo er die Nacht zu verbringen

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