Die Geschichte eines schoenen Mädchens
sagen?«
»Rechnen Sie nach. Rechnen Sie zurück. Sie ist im November geflohen.«
Seine Lider begannen zu flattern. »Nein!«
»Clarence …« Mittlerweile war sie wütend auf ihn, fühlte sich schuldig, weil sie nie etwas unternommen hatte, und hatte Mitleid mit allen anderen. »Rechnen Sie.«
»Sie meinen doch nicht …«
»Doch, genau das meine ich.«
»Fünfundzwanzig Jahre!«
»Richtig.«
»Wo ist es? Er – sie? Wo?«
»Es ist ein Mädchen.«
»Wo lebt sie? Bei Nummer Zweiundvierzig?«
»Nummer Zweiundvierzig ist tot. Er ist noch in derselben Nacht ertrunken.«
»Gütiger Himmel.«
»Meine Freunde haben ihm die letzte Ehre erwiesen, aber sein Leichnam wurde nie gefunden.«
»Wo ist das Mädchen dann?«
»Ich weiß es nicht.«
» Das wissen Sie nicht? «
»Lange Zeit war ich auf dem Laufenden. Sie ist bei der alten Lady aufgewachsen. Martha. Und Martha hat dafür gesorgt, dass Eva Hansberry immer wusste, wo die beiden sich aufhielten. Die meiste Zeit waren sie auf der Flucht – vor Ihnen. Sie gab ihre Absenderadresse nicht mehr auf den Briefumschlägen an, aber sie schrieb Eva regelmäßig bis zum vierzehnten Lebensjahr des Mädchens.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Nein, Clarence.«
»Und was danach aus dem Kind geworden ist, wissen Sie nicht?«
»Das Letzte, was ich erfahren habe, war, dass sie zu jemandem nach Denver gezogen ist. Wo immer sie auch gelandet ist, man hat ihr ein gutes Leben geschenkt. Zumindest ein besseres als das, das ihre Mutter hatte.«
Clarence krümmte sich, als hätte er Schmerzen, und vergrub den Kopf in den Händen.
Kopfschüttelnd drehte sich Kate zum Eingang. Geraldine und Irwin standen vor der Tür und beobachteten sie.Das Gespräch mit Clarence hatte so lange gedauert, dass Kate beinahe ihre Arbeit vergessen hätte. Mr. Todd und Mr. Eskridge hatten wahrscheinlich schon etliche Schachpartien hinter sich gebracht. Und es war höchste Zeit, dass Mrs. Scrumley ihre Medizin bekam. Kate war fünfundzwanzig Jahre zu spät.
»Clarence«, sagte sie mit einem Blick zurück. Seine gespreizten Finger umfassten den kahlen Schädel. »Sie hatten auch eine Frage.«
Er legte die Hände auf den Schoß. Dann hob er den Kopf. »Die brauche ich jetzt nicht mehr zu stellen.«
»Ich bezweifle, dass wir uns jemals wiedersehen, deshalb sollten Sie mich jetzt fragen.«
Er wandte sich ab. Kate sah ihm an, dass seine Gedanken in die Vergangenheit wanderten, wo er sicher jemanden fand, der ihm einst ähnlich gesehen hatte. Dann wurde er kreidebleich und sagte kleinlaut: »Ich wollte wissen, ob Sie mich hassen.«
Kate schaute auf ihn herab. »Meinetwegen sollten Sie sich keine Sorgen machen – da gibt es andere.«
Kate stürmte an Geraldine und Irwin vorbei und wehrte mit erhobener Hand alle Fragen ab. Voller Wut eilte sie durch die Flure zum Wintergarten. Die arme Lynnie! Die ganze Zeit hatte sie mit dieser fürchterlichen Erfahrung leben und allein damit fertigwerden müssen! Deshalb musste sie ihr Baby verstecken. Deshalb war Nummer Zweiundvierzig mit ihr davongelaufen – und gestorben!
Im Wintergarten war niemand. Kate schaute auf die Uhr. Die Westbrook-Bewohner saßen beim Mittagessen, und sie musste ihre Pflichten erfüllen. Aber ihr unglaublich großer Zorn lähmte sie. Sie blinzelte in dem hellen Mittagslicht, das durch die Scheiben flutete, und fragte sich: Was soll ich jetzt machen?
Die Antwort war der vertraute innere Drang, den die anderen ihre Intuition nannten, den sie jedoch als Gottes Führung erkannte. Allerdings verriet ihr die Führung nicht, welche Schritte sie gehen sollte. Sie sagte ihr nur, dass sie eine Beichte ablegen musste.
Kate wankte vor Entsetzen, drückte die Hand auf ihr Herz und wünschte, das alles wäre nicht wahr. Mit einem tiefen Schrei, den sie schon viele Jahre in sich spürte, hob sie den Kopf. Sie war Teil einer Welt gewesen, in der Schläge, Spucken, Beschimpfungen, Arrest und Vergewaltigung an der Tagesordnung gewesen waren. Obwohl Kate nie an irgendeiner Grausamkeit beteiligt gewesen war und sich geschworen hatte, diejenigen, denen sie diente, zu schützen und beizustehen, wo sie nur konnte, hatte sie nichts unternommen, um den körperlichen und seelischen Brutalitäten ein Ende zu setzen. Wie viele andere außer Lynnie mussten noch solche unvorstellbaren Misshandlungen erleiden? Und wie viele Verantwortliche außer Kate hatten ihr Gewissen mundtot gemacht? Wie viele hatten so lange geschwiegen, während die armen
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