Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Geschöpfe so unermessliches Leid ertrugen?
Kate brauchte nicht mit Scott darüber zu reden. Sie musste nicht einmal nach Hause gehen.
Gleich nach Schichtende fuhr sie zur nächsten Telefonzelle. Sie stellte den Wagen auf dem Parkplatz eines Supermarkts ab, und während sie ausstieg und zur Telefonzelle lief, dachte sie daran, dass sie anfangs die Arbeit in der Schule als eine Art Buße angesehen hatte. Jetzt würde sie wieder Buße tun.
Es klingelte fünfmal, ehe jemand am anderen Ende der Leitung den Hörer abnahm.
»Hallo?«, meldete sich eine Frauenstimme.
Ein Fernseher lief im Hintergrund.
»Ich versuche, Lynnie zu erreichen«, sagte Kate. »Bitte sagen Sie ihr, dass Kate mit ihr sprechen möchte.«
Die Frau machte sich auf den Weg – das war nicht Doreen. Lynnie war zweimal in eine andere Wohngruppe gezogen, und ihre Mitbewohnerinnen wechselten ständig.
»Kate!«, rief Lynnie.
Kate war erleichtert, dass ihre Stimme so fröhlich klang. »Lynnie, ich hab dich so lange nicht gesehen.«
»Neun Jahre«, sagte Lynnie.
»Das stimmt. Und weißt du was? Ich habe bald etwas in Pennsylvania zu erledigen. Vielleicht schon nächste Woche. Ist es dir recht, wenn ich dich besuche?«
Für sich selbst einstehen
1993
»Schau da hinauf, Kate«, sagte Lynnie.
Sie standen im Capitol in Harrisburg unter der riesigen Kuppel, deren Namen Lynnie noch immer nicht richtig aussprechen konnte. »Rotunda.«
Zum ersten Mal hatte sie die Rotunda im Oktober vor fünf Jahren gesehen, als sie an einer Konferenz im Capitol teilgenommen und erfahren hatte, dass sie für sich selbst einstehen konnte. Seit damals war sie jedes Jahr zu dieser Konferenz gekommen und hatte sich mit der imposanten Eingangshalle mit dem Marmorboden, den Wandgemälden, den geschwungenen Treppen, den bunten Glasfenstern und der ungeheuer hohen Decke bekannt gemacht. Aber erst heute bekam sie endlich die Gelegenheit, tiefer in das Gebäude vorzudringen, um mit den Juristen der Selbsthilfegruppe – auch ein schweres Wort – zu sprechen, die um drei Uhr eine Anhörung abhielten.
Es war erst halb zehn. Lynnie hatte Kate früh hergebracht und die Vorbesprechung im Hotel verlassen, weil sie vor der Anhörung noch etwas zu erledigen hatten.
»Ist das nicht wunderschön?« Lynnie stand mit Kate am Eingang und schaute nach oben.
»Ja. Jetzt verstehe ich, warum du erst herkommen wolltest.«
»Wunderschön« war einmal das längste Wort gewesen, das Lynnie je gesagt hatte, und Caitlin hatte ihr prophezeit: »Wenn du das fehlerfrei über die Lippen bringst, dann gibt es keine Grenzen mehr für dich.« Leider hatte sie damit nicht ganz recht gehabt. Lynnie war mit »wunderschön« nicht über eine Sprachschwelle getreten. Nach wie vor war sie weit davon entfernt, alle Wörter zu kennen, die ihre Beobachtungen und Erkenntnisse beschreiben könnten, und wenn sie imstande war, diejenigen, die sie im Kopf hatte, zu artikulieren, hatte ihr Mund immer noch zu kämpfen. Aber eines hatte Caitlin richtig erkannt: Sobald Lynnie das Wort »wunderschön« über die Lippen brachte, entwickelte sie neues Selbstvertrauen. Seither hatte sie ihre Aussprache und die Sprechgeschwindigkeit stark verbessert, und sie wurde mutiger, bildete längere Sätze und hatte mehr Kontrolle über die Lautstärke ihrer Stimme. Und sie hatte auch noch andere Dinge gelernt, zum Beispiel, wie viel Abstand man zu jemandem hielt, mit dem man im Gespräch war. So unglaublich es auch war, Lynnie hatte tatsächlich einen Job bekommen, bei dem sie reden musste. Sie war Empfangsdame bei Bridge-Ways, der Agentur, die das Wohngruppenprojekt leitete, das auch sie betreute.
Kate sagte: »Diese Halle ist erstaunlich, Lynnie.«
»Sie klingt auch schön.«
»Was meinst du damit?«
»Mach die Augen zu.«
Kate sah sie verwundert an, aber Lynnie drückte nur ihre Hand.
Auch diesen Aspekt der Rotunda liebte sie sehr: Wenn man die Augen schloss, dann hallten das Klicken der Absätze auf dem Boden, das Klimpern von Schmuck, das Stimmengewirr durch den ganzen Raum; das machte ihr bewusst, dass die Welt so viel größer war als sie.
»Es gibt ein Echo«, stellte Kate fest.
»Und wenn man an der richtigen Stelle steht, hört man es noch besser.« Lynnie machte die Augen auf. »Halt du die Augen geschlossen, und ich zeige es dir.«
Sie führte Kate zu der Stelle, die sie selbst durch Zufall entdeckt hatte, als Doreen bei ihrem ersten Besuch hier mit ihr geredet hatte – direkt unter dem höchsten Punkt der Kuppel
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