Die Geschichte eines schoenen Mädchens
letzten Moment riss er sie an der Leine zurück. Wenn ich auch nur mit der Wimper zuckte oder gar zurückwich, meinte er, jetzt hätte er den Beweis dafür, dass ich ein Schwuler bin, und würde es in alle Welt hinausposaunen. Ich hatte damals keine Freundin, die ich hätte vorführen können, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Deshalb lernte ich, ungerührt stehen zu bleiben, wenn sich die Hunde mit gefletschten Zähnen auf mich stürzen wollten.«
Eine böse Vorahnung beschlich Kate. Er wollte doch nicht …
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie mir das alles erzählen.«
»Weil …« Er rieb sich die Augen. »Weil Sie sie mochten.«
»Wen?«
»Das Mädchen, das wir Nein-Nein nannten.«
»Lynnie.«
»Ihr Name ist mir entfallen.«
»Sie sind hier, weil Sie ihren Namen herausfinden wollen?« Kate stand auf. »Dann beende ich dieses Gespräch. Sie haben recht, ich mochte sie und mag sie noch immer.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging.
»Warten Sie!«
Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen.
»Ich bin nicht gekommen, um herauszufinden, wo sie ist. Ich möchte ihr das Leben nicht noch schwerer machen, als ich es bereits getan habe.«
Kate rührte sich nicht von der Stelle. Sie sah, dass Irwin sie durch die Glasscheibe beobachtete.
»Aus diesem Grund bin ich hier«, fuhr Clarence hastig fort. »Sie konnte nicht reden, deshalb haben Sie nie davon erfahren. Ich trage die Schuld schon die ganze Zeit mit mir herum, und ich muss darüber sprechen.«
Kate zögerte. Lynnie hatte ihr nie verraten, was passiert war – auch nicht, nachdem sie gelernt hatte, sich mit Worten auszudrücken. Sie hatte Kate den Eindruck vermittelt, dass ihr Kind während eines Tumults in einer chaotischen Nacht gezeugt worden war – eines Tumults, den niemand verstanden hatte.
Kate drehte sich um, setzte sich aber nicht.
Eines Tages hatte Onkel Luke Smokes und Clarence in sein Büro gerufen und ihnen eröffnet, dass er in ein paar Jahren für das Amt des Gouverneurs oder einen Sitz im Senat kandidieren würde. Er betonte das so, dass Clarence und Smokes begriffen, dass Welten zwischen ihnen und ihm lagen – der eine Bruder hatte ein Medizinstudium abgeschlossen, der andere machte nichts aus seinem Leben. Smokes nahm das hin, solange er schalten und walten konnte, wie er wollte. Onkel Luke paffte seine Zigarette und sagte zu ihm: »Wahrscheinlich werden wir eine Unterkunft für dich suchen müssen. Der Gedanke allein schmerzt mich, aber du wärst längst in der Gosse gelandet, wenn ich mich nicht um dich gekümmert hätte.«
Smokes kochte vor Wut, als sie das Büro verließen. Sie gingen in ihr Quartier, betranken sich und überlegten, wie sie Onkel Lukes Pläne durchkreuzen konnten. Alses Zeit wurde, die Nachtschicht anzutreten, war Smokes richtig in Rage. Als Erstes suchten sie die aggressivsten Jungs in ihrem Cottage auf, schlugen mit Stöcken auf die Eisenbetten und schrien, dass sie ein Spiel spielen wollten. Sie bewaffneten die Jungs mit Keulen und Stöcken, forderten sie auf, so viel zu zerstören, wie sie konnten, und drohten ihnen, dass die Hunde mit allen, die ihren Beitrag nicht leisteten, kurzen Prozess machen würden. Die Jungs legten los, schlugen die Fenster ein, zertrümmerten das Mobiliar und verprügelten sich gegenseitig. Smokes riss die Haustür auf und stachelte sie noch mehr an. Die Insassen liefen brüllend ins Freie und droschen auf Bäume und Laternenpfähle ein, bis Smokes plötzlich entschied, die Meute in A-3 zu lassen. Die Pfleger von der Abendschicht sahen tatenlos zu, wie die Jungs ins Cottage stürmten. Sie hatten ihre Autos längst in Sicherheit gebracht und beabsichtigten nicht einzuschreiten. Der Lärm musste die Bewohnerinnen in Alarmbereitschaft versetzt haben, denn viele versteckten sich unter den Betten oder im Waschraum. Die Jungs wüteten hauptsächlich im Gemeinschaftsraum, warfen mit Möbelstücken und amüsierten sich königlich. Smokes bekam mit, wie Lynnie mitten im größten Chaos Zuflucht in einer Besenkammer suchte. Er wusste, dass Clarence nicht gut auf sie zu sprechen war – sie war eine Beißerin und hatte eine Narbe an Clarence’ Hand hinterlassen. Außerdem war sie die Hübscheste unter allen Bewohnerinnen. Als Smokes ihn grinsend bat, die Hunde festzuhalten, und die Hand nach der Kammertür ausstreckte, erhob Clarence keine Einwände. Er hatte immer weggeschaut, wenn Smokes sich seinen Spaß bei anderen Insassinnen holte oder die minderbemittelten Jungs dazu
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