Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Mädchen, antwortete er. Und fügte wie immer hinzu: Kannst du dir einen schöneren Tag als den heutigen vorstellen?
Anmerkungen der Autorin
und Danksagung
Wie viele Geschwister von Behinderten erfuhr ich schon als Kind von der Existenz der staatlichen Heime. Meine Schwester Beth hatte eine geistige Behinderung, und meine Eltern sprachen darüber, dass manche Kinder wie Beth »weggegeben« und in Einrichtungen groß wurden. Sie gingen nicht näher darauf ein, beteuerten jedoch, dass sie Beth ein solches Schicksal ersparen würden. Dafür hatten sie persönliche Gründe. Während der Weltwirtschaftskrise verarmte mein Großvater so sehr, dass er meinen Vater und dessen Bruder nicht mehr bei sich behalten konnte. Sie kamen in ein Waisenhaus. Obwohl sie dort leidlich gut behandelt wurden, sagte mein Vater ein ums andere Mal zu uns: »Wenn man in einem Heim lebt, weiß man im Grunde seines Herzens, dass man nicht wirklich geliebt wird.« Deshalb wuchs meine Schwester zu Hause auf, und ich wusste nicht viel über die Alternative.
Mein Interesse wurde geweckt, als Beth und ich allmählich erwachsen wurden. Im Jahr 1972 sahen wir zufällig in den Fernsehnachrichten einen Beitrag von Geraldo Rivera. Mithilfe eines gestohlenen Schlüssels hatte er sich mit einer versteckten Kamera heimlich Zugang zur Willowbrook State School verschafft. Über die Aufnahmen, die er herausgeschmuggelt hat, waren wir entsetzt – wir und die ganze Nation.
Fünfundzwanzig Jahre später, als ich gerade ein Buch über mein Leben mit Beth schrieb, erfuhr ich, dass Medienberichte wie der von Rivera bewirkt haben, dass viele Einrichtungen geschlossen wurden, und das wiederum führte zu einer großen Weiterentwicklung der Bürgerrechte, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts. Die Idee, dass Menschen mit Behinderungen Entscheidungen über ihr Leben selbst treffen können, war geboren. Doch erst als mein Buch Riding The Bus With My Sister herauskam und ich eingeladen wurde, Vorträge im ganzen Land zu halten, erfuhr ich mehr über die staatlichen Einrichtungen. Bei fast jeder Podiumsdiskussion meldeten sich Menschen, die in einer gelebt oder gearbeitet hatten oder mit einem Betroffenen verwandt waren. Ihre Geschichten, die oft von Kämpfen, Leid und Kummer erzählten, bewegten mich zutiefst. Gleichzeitig plagten mich Gewissensbisse, weil sich derartige Tragödien in einem Paralleluniversum abspielen konnten, von dem selbst ich als Schwester einer geistig Behinderten nichts gewusst hatte. Ich begann, alles zu lesen, was ich über dieses Thema finden konnte – es war beschämend wenig.
Nach einem Vortrag in Itasca, Illinois, fiel mir in einem Buchladen ein Buch mit dem Titel God Knows His Name: The True Story of John Doe Number 24, verfasst von einem Journalisten namens Dave Bakke, in die Hände. Auf dem Einband war ein junger Afroamerikaner mit ängstlichem Gesichtsausdruck abgebildet; im Klappentext stand, dass es sich um die wahre Geschichte eines tauben Mannes handelte, die durch Interviews und Akten rekonstruiert werden konnte. Ich kaufte das Buch und hatte es ganz durchgelesen, noch ehe ich an Bord meines Flugzeugs ging.
Dies ist die Geschichte des Mannes: Im Jahr 1945 griff die Polizei einen gehörlosen jungen Mann von etwa fünfzehnJahren auf, der durch die Straßen von Illinois irrte. Niemand verstand seine Gebärden, er schien Analphabet zu sein. Statt ihn in eine Schule für Gehörlose zu bringen oder in Zeitungen zu veröffentlichen, dass ein Teenager aufgefunden worden war, wurde er für schwachsinnig befunden und in eine Einrichtung gesteckt. Dort gab man ihm eine Nummer, weil sein Name unbekannt war. Anfangs machte der Junge seinem Zorn ungehemmt Luft, doch allmählich begann er, Verantwortung zu übernehmen. Das Personal mochte ihn, und viele Pfleger ahnten, dass er geistig gesund war. Aber ihre Bedenken blieben ungehört, und als man versuchte, mit dem Jungen in der American Sign Language zu kommunizieren, reagierte er nicht. Benutzte er mit seinen Gebärden eine andere Sprache? Hatte er nie irgendeinen Unterricht genossen? Ein Schicksal, das zu dieser Zeit viele Schwarze in ärmlichen Verhältnissen betraf. Niemand wusste es. Er blieb bis zu seinem Tod fünfzig Jahre später in dieser Einrichtung.
Die Geschichte brach mir das Herz, und ich musste ständig an den Mann denken. Wer war er? Wen hat er geliebt, von wem wurde er geliebt, bevor er in Gewahrsam genommen wurde? Warum hat niemand nach ihm gesucht? Was wäre geschehen,
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