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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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aufnehmen wollte.
    Und jetzt las sie so vieles in diesem kleinen, perfekten Gesicht, dessen Züge wie aus dem Nichts entstanden waren.Nein – nicht aus dem Nichts; sie waren ererbt von einer Mutter, die in einer Einrichtung leben musste, in der sie so grausam behandelt wurde, dass sie die Flucht gewagt hatte und ihr Baby verstecken wollte. Das Kind hatte auch einen Vater. War er ein anderer Insasse? Einer, der kaum verstand, was zwischen ihm und Lynnie geschehen war? Oder einer, der Lynnie liebte, auch wenn sie seine Liebe nicht erwiderte? Vielleicht mochte sie ihn nicht einmal. Vielleicht, wurde sie …
    Nein, diesen Gedanken verbot sich Martha.
    Sie beschäftigte sich rasch mit anderen, noch schwerwiegenderen Fragen. Wenn die Perfektion dieses Babygesichtes als Beweis für das Göttliche erschaffen war, was bewies dann ein behinderter Körper oder Geist? Dass es keine höhere Macht gab, wie Earl behauptete, nachdem sie ihren Sohn begraben hatten? Oder dass der Allmächtige auch Irrtümer und Fehler beging? Der Griff der kleinen Finger lockerte sich, und Martha zog ihre Hand zurück.
    Sie ging im Zimmer auf und ab und fuhr sich durch die Haare. Es wäre nicht klug, sich in einen spirituellen Abgrund zu stürzen. Es gab so vieles, worüber sie nachdenken musste, dabei besaß sie kaum genügend Energie, um sich ein Bad einzulassen. In der Hoffnung, die Zerstreuung zu finden, an die sie gewöhnt war, zog sie die Lade des kleinen Schreibtisches auf. Dort fand sie Briefpapier und einen Kugelschreiber. Doch die Briefpartner, die sich für theologische Fragen interessierten, wären sicherlich erstaunt über ihre unerwarteten Probleme. Zudem war sie nicht bereit, ihre Zwangslage zu offenbaren. Sie legte das Adressbuch aus der Hand und lauschte dem Wind und dem Atem des Babys. Nach einer Weile schlug sie die Mappe mit dem Briefpapier auf und nahm den Stift in die Hand. Nach dem ersten Federstrich schrieb sie an jemanden, mit dem sie nie zuvor korrespondiert hatte.
    In ihrer Schönschrift, mit der sie ganzen Schülerjahrgängen das Schreiben beigebracht hatte, begann sie: »Für den Fall, dass ich nicht bei dir sein kann, um dir alles zu erzählen, schreibe ich nieder, wie dein Leben auf Erden angefangen hat.«
    »Mrs. Zimmer?«
    »Oh!« Martha presste erschrocken die Hand auf die Brust.
    Sie drehte sich zur Tür um – auf dem Schreibtisch lagen bereits etliche beschriebene Seiten. Es war dunkel im Zimmer.
    »Ich störe wirklich nicht gern«, sagte Graciela mit spanischem Akzent. »Aber es muss sein.«
    Martha öffnete die Tür.
    Graciela, in Hose und Rollkragenpulli, stand mit einem Tablett vor ihr. »Wir haben uns Gedanken gemacht, weil Sie nicht zum Abendessen erschienen sind. Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit zubereitet und frische Windeln mitgebracht.«
    Entdeckte Martha einen vorwurfsvollen Unterton in Gracielas Stimme? Immerhin hatte sie eine ganze Kinderschar zu beaufsichtigen und ein Hotel zu leiten. Natürlich ärgerte sie sich darüber, dass sich Martha nicht nach dem Tagesablauf in ihrem Haus richtete. Wie unhöflich von ihr. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Ungelegenheiten bereite.«
    »Ungelegenheiten? Wir haben uns nur Sorgen um Sie gemacht.«
    Zum Glück fing die Kleine an zu weinen. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagte Martha und kehrte Graciela den Rücken zu. »Wären Sie so freundlich, die Sachen …«
    Graciela folgte ihr ungefragt ins Zimmer. »Bitte. Ichweiß, wie Sie sich fühlen. Niemand sollte das allein machen.« Sie ging zu dem Babykorb und flötete: » Hola , meine Kleine.« Dann stellte sie das Tablett auf den Servierwagen. »Ich kümmere mich um sie, während Sie essen.«
    »Ich kann nicht …«
    »O doch, Sie können.« Graciela nahm das Kind auf den Arm.
    Martha schämte sich in ihrem Nachthemd. Ihre Haare waren bestimmt furchtbar zerzaust. Und das Zimmer war nicht aufgeräumt.
    Graciela ging zum Windelnwechseln ins Bad. Erleichtert, dass ihr jemand diese Aufgabe abnahm und weil sie ohnehin nicht in der Verfassung war, Widerstand zu leisten, setzte sich Martha an den Tisch.
    »Lassen Sie uns heute einen Spaziergang machen«, schlug Graciela eines Morgens vor.
    Seit sechs Tagen schaute sie nun regelmäßig vorbei – immer wenn sie und die fünf Kinder den Flur saugten, von dem Marthas Zimmer abging. Sie holte die schmutzigen Windeln ab und brachte die sauberen und Fläschchen mit Babymilch. Henry, der mit seinen Renovierungsarbeiten alle Hände voll zu tun hatte,

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