Die Geschichte eines schoenen Mädchens
als sie von Babygeschrei geweckt wurde, registrierte sie, dass sie sich nicht einmal mehr zugedeckt hatte. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte zehn Minuten nach fünf an. Sie sah erschrocken nach dem Kind und war froh, dass es nur nach einer Flasche verlangte. Beim nächsten Füttern um sechs Uhr fünfzig graute der Morgen, und der Duft nach Kaffee und gebratenen Eiern wehte aus dem Speiseraum zu ihr, aber sie war nicht imstande, aufzustehen und sich anzuziehen. Sie schlief noch einmal ein. Allerdings war sie jetzt, da die Sonne kräftig schien, auch nicht bereit, sich der Welt zu stellen.
Traurig nach der Erkenntnis, dass Earl nicht wiederauferstanden war, spähte Martha auf den Wecker. Viertel nach neun! Wie konnte das sein? Spätes Aufstehen war noch nie Marthas Sache gewesen; in diesem Punkt hatte sie Earls Ansicht geteilt: Ausschlafen war gleichbedeutend mit Trägheit. Der Hotelwecker ging bestimmt vor. Erstaunlicherweise zeigte ihre Armbanduhr dieselbe Zeit an.
Sie ging zum Fußende des Bettes und kauerte sich neben den Korb. Earl lebte nicht mehr, aber dieses Baby war ihr bereits vertraut, Martha legte die Hand auf das Köpfchen und strich sanft über den weichen Haarflaum. Das kleine Gesicht kam ihr jedes Mal, wenn sie es ansah, prägnanter vor – wie ein Buch, das immer mehr Tiefenoffenbarte, je öfter man es las. Jetzt, im von Schatten gedämpften Morgenlicht schienen die Wangen des Babys aktiv und der Mund in ständiger Bewegung zu sein. Martha rückte ein wenig näher. Der winzige Körper lud zu unendlich mehr Betrachtungen ein; zum ersten Mal beobachtete sie, wie die Kleine die Faust an die Lippen hob und daran saugte wie an ihrem Fläschchen. Martha dachte an Evas Anweisung, das Baby alle paar Stunden zu füttern; und langsam wurde ihr bewusst, dass sie es nicht mit der bis dahin unbemerkten Aussagekraft eines Romans zu tun hatte, sondern mit der schlichten Bitte um Milch. Man stelle sich vor: Säuglinge verlangten sogar im Schlaf nach Nahrung.
Martha lachte über ihre hochtrabenden Gedanken, als sie die Kühltasche öffnete, in die Eva eine ganze Reihe Fläschchen gepackt hatte. Nach jedem Füttern holte sie eine Flasche heraus, so dass sie beim nächsten Zimmertemperatur hatte. Sie nahm die volle Flasche vom Waschtisch, schob den Arm unter das Baby und setzte sich mit ihm aufs Bett.
Während sie den Sauger zwischen die rosigen Lippen schob und das Baby trank, ging Martha durch den Kopf, dass sie das Aussehen des Kindes genau beschreiben könnte, obwohl ihr immer wieder etwas Neues auffiel. Die Haut war hell, das Gesicht herzförmig. Die Augen standen dicht beieinander. Die Nase war leicht nach oben gebogen und relativ groß. Unter den Nasenlöchern sah man ausgeprägte Grübchen. Die Lippen waren fein geschwungen, das Kinn dreieckig, die Ohrmuscheln wellenförmig. Martha musste sich jeden Schritt vorsagen: nach dem Füttern den Rücken tätscheln, bis das Baby ein Bäuerchen machte, die Windel wechseln. Die volle Windel in dem verschließbaren Eimer, den ihr Eva zur Verfügung gestellt hatte, verstauen und eine frische anlegen. Um in der Betrachtungdes Babys zu versinken, brauchte sie keine Instruktionen – darüber war sie froh. Sie wiegte das Kind auf dem Arm, damit es wieder einschlief, und zog mit der anderen Hand die Jalousie hoch. Lichtstrahlen sickerten durch das Geäst der Bäume, und sie entdeckte einen Streifen hellblauen Himmels. Sie stand am Fenster und machte sich klar, dass sie entscheiden musste, was mit der Kleinen werden sollte. Doch die Möglichkeiten waren so unklar wie ihre Erinnerung an den Anmeldezettel, den sie in der Nacht an der Rezeption ausgefüllt hatte. Wie lange konnte sie in diesem Zimmer bleiben? Sollte sie ihren Schützling jemandem übergeben, der sich besser als Mutter eignete als sie? Während die Atemzüge des Kindes ruhiger wurden, kämpfte Martha mit sich. Nach einigen Minuten legte sie das Baby zurück in den Korb, atmete erleichtert auf und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Gesichtszügen. Es war eine solche Freude, diesen kleinen Menschen zu betrachten, und während sie die Details studierte, dachte sie an den Glauben, an dem sie als Lehrerin festgehalten hatte: Schüler, die gern lasen, konnte man in zwei Kategorien einteilen – die einen verschlangen ein Buch nach dem anderen, die anderen genossen ein und dasselbe Buch mehrmals. Einige Lehrer hielten erstere für kühn, letztere für viel zu zaghaft, Martha hingegen vertrat die Meinung, dass
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