Die Geschichte eines schoenen Mädchens
fütterte und kleidete das Kind und schob freudig den Kinderwagen vor sich her. Lynnie hingegen war nichts als eine bittersüße Erinnerung geblieben.
Ein Windstoß beugte die Baumspitzen vor dem dunklerwerdenden Himmel, und plötzlich kam Martha ein Gedanke: Wenn man etwas verbergen wollte, war es am besten, es nicht vor den Blicken anderer zu schützen – man musste ihm eine überzeugende Tarnung geben. Solange sie sich um die Kleine kümmerte, würde es aussehen, als gehörten sie zusammen… Das war kein Betrug, sondern ein Akt der Nächstenliebe. Es war richtig, dieses Kind zu lieben.
Am Weihnachtstag fanden die ehemaligen Schüler einen Zettel an Marthas Farmhaustür vor: »Martha ist in diesem Jahr verreist. Meldet euch 1969 wieder.«
Als Henry an diesem Tag in seine Hotellobby kam, verkündete er seinen Kindern sowie Martha und dem Baby, dass er die Feiertage in diesem Jahr besonders festlich begehen wollte. Die Kinder bestürmten ihn mit Fragen, doch er sagte nur, am Abend würden sie alles mit eigenen Augen sehen. Graciela lächelte wissend und sagte: »Das ist einer von Papas Plänen, Gäste anzulocken. Es funktioniert im Central Park, dann funktioniert es vielleicht hier auch. Wir müssen uns alle nur ganz warm anziehen.«
Bei Sonnenuntergang packte Martha das Baby dick ein und gesellte sich zu Graciela und den Kindern, die Marshmallows im Kamin rösteten. Martha hatte der Kleinen noch immer keinen Namen gegeben. Doch als sie Graciela und ihre Kinder beobachtete und so viel Vertrauen und Liebe in ihren Augen sah, wurde ihr klar, dass sie und das Baby dieselben Gefühle teilten.
Henry trat in Zylinder und Gehrock vor sie hin. »Ladys and Gentlemen«, hob er mit britischem Akzent an, »ein Abenteuer wartet auf Sie.« Er lüftete den Zylinder und verbeugte sich.
Alle liefen hinaus. Auf der kreisförmigen Zufahrt zum Hotel stand eine wunderschöne hohe Pferdekutsche. »Siesieht aus wie Aschenbrödels Kutsche!«, rief Rose, die Älteste, und die Glöckchen am Zaumzeug der Pferde bimmelten.
Henry erklärte freudestrahlend, während Atemwölkchen aus seinem Mund kamen, dass er vorhatte, junge Paare in dieser Kutsche zum See und wieder zurück zu fahren, den jungen Männern die Möglichkeit zu geben, an dem romantischen Ort ihren Antrag zu machen oder Flitterwöchnern ein Champagnerpicknick vorzubereiten. Und heute Abend würde seine Familie mit Martha und der Kleinen die Fahrt zum ersten Mal machen.
Der Kutscher hielt die Tür auf. Martha stieg mit dem in eine Decke gewickelten Baby als Erste ein. Die anderen folgten, und Henry legte Schaffelle über ihre Schöße. »Die werden euch warm halten«, sagte er und schloss die Tür.
Henry kletterte mit Ricardo auf den Kutschbock. »Los geht’s.«
Die Glöckchen tönten durch die Nacht.
Die Fahrt war gemächlich und zauberhaft. Graciela und die Kinder zeigten Martha den Rodelhang, den vereisten Weiher, auf dem sie Schlittschuh fuhren, und den Platz, an dem Henry eine Gartenlaube bauen wollte. Graciela erzählte, wie er sie auf einem Spaziergang über diesen Weg überredet hatte, dem Kauf der Kutsche zuzustimmen. »Manchmal denkt man, man wüsste, was man will. Bis man entdeckt, was man alles noch haben kann.« Martha betrachtete die Silhouetten der Bäume auf dem Hügel. Sie nickten im Wind.
Das Baby schmiegte sich unter ihrem Mantel an sie. Martha drückte es sanft. Sie erreichten den See.
»Dies ist die Stelle, wo die Männer ihre Anträge machen«, erklärte Henry.
»Graciela, wie heißt der See?«, fragte Martha.
»Wir haben ihn nach Tia Julia benannt«, antwortete Rose.
»Ja«, bekräftigte Graciela. »Das ist der Lake Julia.«
»Lake Julia«, wiederholte Martha. »Das ist gut.«
» Gut ?« Die Kinder kicherten.
Sie schlug ihren Mantel auf. Das Baby sah mit dem strahlendsten Lächeln, das Martha je gesehen hatte, zu ihr auf. Dieses Lächeln wärmte sie mehr als alles andere, was ihr je im Leben begegnet war. Dies war die Liebe, die ihr so lange vorenthalten geblieben war – endlich durfte sie sie in den Armen halten.
»Willkommen zu deinem ersten Weihnachtsfest«, sagte sie. Unwetter würden noch auf sie zukommen, das wusste sie. Stürme, Regen und Hagel. Aber im Augenblick schien das Lächeln des Kindes für die Ewigkeit zu sein.
»Mögen wir immer so glücklich sein wie jetzt«, sagte Graciela.
»Mögen wir immer so glücklich sein«, wiederholte Martha und strich über die kleine Wange, dann setzte sie hinzu: »Julia.«
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