Die Geschichte eines schoenen Mädchens
durcheinander gewesen wegen des Babys, dass ihr entfallen war, welchen Plan sie geschmiedet hatten, doch jetzt fiel ihr alles wieder ein. Eva hatte die Idee, an Marthas ehemalige Zöglinge zu schreiben. Natürlich nicht an alle – nur an die wenigen, zu denen sie auch noch nach deren Schulzeit ein persönliches Verhältnis aufrechterhalten hatte. An die paar, die am wahrscheinlichsten ihre Hilfe anbieten würden. Dieser Brief erklärte, warum Graciela und Henry in den letzten Tagen so großzügig gewesen waren.
»Wann haben Sie den Brief erhalten?«, wollte Martha wissen.
»Kurz nach Ihrer Ankunft.«
Und sie hatten kein Wort darüber verloren.
»Es ist einsam hier draußen am Ende der Welt«, sagte Graciela versonnen. »Wir wohnen schon ein Jahr hier, und Sie sind unser einziger Gast. Ich wäre glücklich, wenn Sie so lange blieben, wie es Ihnen gefällt.«
»Ich bin sehr … danke.« Martha streckte die Hand nach dem Griff des Kinderwagens aus, dann fügte sie hinzu: »Was hat Eva sonst noch geschrieben?«
»Sie hat uns gebeten, Ihnen keine Fragen zu stellen.«
Eva war so zuverlässig, wie es sich Martha gewünscht hatte, zudem sehr klug.
»Aber Sie sagten, Sie hätten eine Frage«, wandte Martha ein, als sie das Baby aus dem Wagen hob und sagte: »Sie ist ein so braves Kind.« Sie hoffte, das würde Graciela ablenken.
»Sie sind jetzt eine Woche hier, und wir wissen es immer noch nicht … Wie heißt die Kleine?«
Gegen Ende der zweiten Woche wagte Martha, allein Spaziergänge mit dem Baby zu unternehmen. Nach der dritten Woche verbrachten sie hin und wieder Zeit in der Lobby und wärmten sich am Feuer. Die Kinder rissen sich darum, das Baby auf den Arm zu nehmen. In der vierten Woche schlug Graciela vor, mit der Kleinen zu einem befreundeten Arzt zu gehen. »Sie braucht die Erstuntersuchung.«
Graciela saß am Steuer. Der Tag war windig, und der Schnee in den Bergen und Tälern glitzerte saphirblau in der Kälte. Am liebsten hätte Martha das Kind hochgehoben und gesagt: »Sieh dir die Welt an! Es ist deine Welt!« Stattdessen dachte sie an den Brief von Eva, den sie gerade erhalten hatte. Darin stand: »Oliver hat Reifenspuren entdeckt, die direkt in den Wald führen, deshalb wissen wir, dass ein Suchtrupp wegen des flüchtigen Mannes ausgeschickt wurde. Aber rund um Ihr Haus gibt es keine Spuren. Das heißt wahrscheinlich, dass sie noch nichts von der Existenz des Babys wissen.« Eva fragte nicht, wie lange Oliver noch auf der Farm arbeiten musste, deshalb hatte Martha zu ihrem Antwortschreiben einen Scheck gelegt und den Betrag, den sie ursprünglich ausgemacht hatten, verdoppelt. Jetzt machte sie sich Sorgen, dass der Scheck zurückverfolgt werden konnte.
Der weißhaarige Arzt hatte die Praxis in seinem Haus. Martha gab sich als Großmutter aus, als sie das Baby auf den Untersuchungstisch legte, und freute sich, dass ihr braves Kind ( ihr braves Kind) sogar in dieser fremden Umgebung friedlich blieb, den Arzt ansah und bei seiner Berührung sogar zufrieden gurrte.
Der Doktor unterhielt sich freundlich mit ihr, wennauch hauptsächlich über das Kind. »Du siehst kerngesund aus«, sagte er. »Man sorgt wohl gut für dich?« Am Ende der Untersuchung fragte er: »Und braucht deine Großmutter eine Geburtsurkunde für dich?«
Martha richtete den Blick aus dem Fenster und betrachtete den Schnee. »Ja.«
»Ich brauche zwei Informationen, um die Urkunde auszustellen: erstens die Wahrheit.«
Martha sah ihn an.
»Ich weiß von Henry, dass Sie eine vertrauenswürdige Person sind, und deshalb muss es gute Gründe geben, dass dieses Kind in Ihrer Obhut ist. Sie können mir alles erzählen. Bei mir sind Geheimnisse gut aufgehoben.«
Martha holte tief Luft und begann ihre Geschichte. Als sie zum Ende gekommen war, füllte der Arzt ein Formular mit der Schreibmaschine aus. Vater: unbekannt. Mutter: unbekannt. Adresse: unbekannt.
Er schaute auf. »Als zweites brauche ich den Namen der Kleinen.«
Martha schüttelte den Kopf. »Sie hat keinen.«
In der Dämmerung desselben Tages stand Martha am Fenster in ihrem Zimmer. Sich selbst als Großmutter auszugeben hatte sich schon angefühlt, als würde sie Lynnie verraten. Wie konnte sie dann so weit gehen und dem Kind einen Namen geben?
Es war schrecklich ungerecht. Martha erlebte, wie sich die Kleine an ihrem Finger festhielt, wie ihre Herzen im Gleichtakt schlugen, und sie betrachtete das kleine Gesicht, als wäre es das Gesicht des Himmels. Sie badete,
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