Die Geschichte eines schoenen Mädchens
lassen Sie in Ruhe. Wir wissen, dass sie bald zu Ihrer Schwester weiterfahren müssen, aber bis zu Ihrer Abreise möchten wir Ihnen unsere Gastfreundschaft erweisen.«
Wieder war Martha sprachlos, diesmal jedoch aus einem anderen Grund. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie das Baby als ihre Großnichte ausgegeben hatte. Als sie vorgestern Nacht hier angekommen war, war sie hundemüde gewesen und hatte Graciela, die verschlafen auf ihr Klingeln in die Lobby geeilt kam, irgendeine Geschichte aufgetischt. Es widerstrebte ihr, dass ihr die Lügen so leicht über die Lippen kamen, als sie behauptete, ihre Nichte hätte Probleme wie viele junge Leute heutzutage – sie blieb vage, als müsste sie Diskretion wahren –, und solange ihre Nichte Betreuung brauchte, sollte ihr Baby bei Marthas Schwester bleiben. Henry und Graciela wussten nicht, dass Martha gar keine Schwester hatte. Sie wussten nur, dass sie und ihr verstorbener Mann kinderlos geblieben waren. Aus Gracielas Reaktion, ihrem Interesse für das Baby und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Gast ohne weitere Fragen zu Zimmer 119 begleitet hatte, schloss Martha, dass ihre erfundene Geschichte überzeugend gewesen war.
»Ich nehme ihre Hilfe bei den Windeln gern an. Und was das Essen angeht – das, was du mir gebracht hast … es genügt vollauf.«
»Wie Sie wollen, Mrs. Zimmer.«
»Ich stelle den Eimer mit den Windeln später auf den Flur. Würde es dir etwas ausmachen, das Tablett erst mal vor der Tür zu lassen?«
»Ich bin hier, um Ihnen ein luxuriöses Mahl in Ihrem Zimmer zu servieren.« Er machte ein Zeichen, und ein Junge mit Zahnlücke schob einen mit einem Tuch bedeckten Wagen neben seinen Vater.
Martha spürte, wie sich ihr Lehrerinnenlächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete – das Lächeln, das sie jedes Mal gezeigt hatte, wenn sich neue Schüler an ihre Pulte setzten und erwartungsvolle Blicke auf sie richteten.
»Und wer bist du?«, wollte Martha wissen.
»Ricardo«, antwortete der Junge halb schüchtern, halb selbstbewusst.
»Bestimmt bist du deinen Eltern eine große Hilfe, Ricardo.«
Er kicherte. »Ich kann auch gut mit dem kleinen Farbpinsel umgehen.«
»Und ich mit der Rolle!«, rief ein Mädchen vom Ende des Ganges.
»Warte ab, bis du ranmusst, Rose«, erwiderte Henry nachsichtig.
»Ich würde dir gern mehr zu tun geben, Ricardo«, sagte Martha, »aber es reicht, wenn du den Wagen mit dem Tablett vor der Tür stehen lässt. Ich hole ihn später ins Zimmer.«
»Kommen Sie heute zum Abendessen?«, erkundigte sich Ricardo.
»Das weiß sie noch nicht, Ricky«, schaltete sich Henry ein. Er machte den Eindruck, als wollte er noch etwas anfügen, besann sich aber eines anderen. Stattdessen murmelte er etwas davon, dass Ricardo und seine Geschwister noch lernen mussten, dass der Gast König war. Vaterund Sohn ließen den Wagen und das Tablett vor Marthas Zimmer und gesellten sich zu den anderen, plötzlich sehr gesprächigen Kindern.
Martha merkte erst, wie hungrig sie war, als sie den Wagen ins Zimmer rollte. Das Frühstück war pure Hausmannskost – Rühreier, frisches Brot, Marmelade, Speck und köstliches Gebäck, das Graciela sicher seit ihrer Kindheit in Peru kannte. Martha genoss jeden Bissen.
Dann ging sie zum Babykorb. Sie kam sich dumm vor, weil es sie dazu trieb, die Kleine unaufhörlich anzusehen, trotzdem konnte sie nicht widerstehen. Sie setzte sich auf den Boden und strich über die apfelrunden unglaublich zarten Wangen. Das Baby zuckte zusammen, entspannte sich aber gleich wieder, und Martha bemerkte, dass die kleinen Fäuste ständig geballt waren. Offenbar ist es eine angeborene Fähigkeit, eine Faust zu machen , überlegte Martha und dachte daran, wie die Menschen seit Urzeiten ihre Fäuste gebrauchten. Sie berührte die kleinen gekrümmten Finger und wünschte, sie könnte dieses Kind davor bewahren, jemals die Bedeutung von Krieg kennenzulernen. Mit einem Mal öffnete die Kleine die Hand und umklammerte Marthas kleinen Finger. Martha lachte leise; das Baby hielt sie fest! Erstaunlich. Offenbar können Menschen von Geburt an Fäuste machen und greifen. Ja, wir sind dazu geschaffen, zu kämpfen und zu umarmen.
Wie weise die Schöpfung ist , dachte Martha und rief sich in Erinnerung, dass Earl immer den Blick abgewandt hatte, wenn sie an einer Kirche vorbeikamen. Die Schöpfung . Sie selbst hatte kaum einen Gedanken daran verschwendet, wie der Mensch geschaffen war oder ob sie ihre Kirchenbesuche wieder
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