Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Besuche nur in einem der Büros der Angestellten stattfinden und nicht länger dauern als eine Stunde. Aber vielleicht, dachte Kate, ist ein kurzer Besuch ganz gut, insbesondere beim ersten Mal. Lynnie zeigte Hannah ihre Kunstwerke, allerdings verstand Hannah die ungeübte Sprache ihrer Schwester nicht und sah Kate hilfesuchend an. Hannah, die einst Lynnies eifrigste Fürsprecherin gewesen war, fühlte sich gar nicht wohl in dieser Situation und war ratlos, was sie sagen sollte. Es erschreckte sie, dass ihre Schwester nicht nur ein eigenes Leben führte, sondern auch noch Talent hatte. »Die Bilder sind gut«, wiederholte sie immer wieder. Ein genauso großes Rätsel gab ihr Doreen auf, die vorbeischaute und, nachdem sie erfahren hatte, dass Lynnies Schwester zu Besuch war, aus dem Büro stürmte und die Tür zuknallte. Hannah konnte nicht wissen, dass Doreennie etwas von ihren Angehörigen gehört hatte. Nur Lynnie schien entspannt zu sein, während sie ihre Zeichnungen von Pferden und Maisfeldern durchblätterte. Kate wusste allerdings, dass nicht alles so war, wie es schien. Lynnie zeigte nur die Bilder aus dem letzten Ordner her. Keine von ihrer Zeit mit Nummer Zweiundvierzig. Keine von dem Baby.
Nichts davon erwähnte Kate, als sie Hannah zu ihrem Auto begleitete. Sie sagte nur, dass sie seit John-Michael Malones Bericht Hoffnung auf Veränderungen hegte und dass Hannahs Besuch der erste große Schritt war.
»Was könnte sonst noch geschehen?«, wollte Hannah wissen.
Kate erzählte von ihrem Antrag auf eine Sprachtherapie für Lynnie. Wenn Lehrer eingestellt würden, wäre es möglich, einen Kunstkurs einzurichten. Die Cottages könnten renoviert und umgebaut werden. Vielleicht wurde auch Onkel Luke ersetzt.
Kate schwieg dann. Sie wollte das Thema Unterbringung nicht anschneiden, da die meisten der Ansicht waren, dass die Betroffenen bei ihren Familien am besten aufgehoben wären, aber Hannah hatte bereits angedeutet, dass ihre Eltern davon nichts wissen wollten.
Als sie den Ford erreichten, sagte Hannah: »Ich komme bald wieder.«
Das hoffe ich, dachte Kate. Oh, das hoffe ich sehr.
Kate steckte die Hände tief in die Taschen und sah Hannah nach, als sie vom Parkplatz fuhr. Ja, es war ein Wunder, dass Hannah hergekommen war. Aber eigentlich hatte Kate sich ein wenig mehr erhofft.
Sie schloss die Augen. »Ich möchte nicht undankbar erscheinen, Jesus Christus«, betete sie. »Ich bitte dich nicht, all die Menschen mit Behinderungen zu heilen oder ihreAngehörigen in Heilige zu verwandeln. Ich bitte dich auch nicht, Nummer Zweiundvierzig von den Toten aufzuerwecken oder Julia zur ihrer Mutter zurückzuführen. Alles, worum ich dich bitte, ist, Lynnie das Simpelste zu geben – das, was wir alle haben. Bitte bring Lynnie weg von hier und biete ihr ein Zuhause.«
Der Tag
der roten Feder
1974
Die Sonne war schon warm, als sie das große Haus verließen, in dem sie alle geschlafen hatten, und auf die Felder gingen. Homan kannte die Namen der anderen nicht, aber er war sich bewusst, dass sie ihn aufgenommen hatten, als er mutterseelenallein und elend in der Stadt umhergeirrt war. Am Morgen hatte er wie beinahe jeden Tag einen Strohhut aufgesetzt und war mit den beiden Jungs losgegangen, die ihn schluchzend an der Tankstelle vorgefunden, ihm etwas zu essen gegeben und schließlich mitgenommen hatten. Beide waren Gitarrenspieler mit langen Haaren. Vor ihnen ging ein chinesisches Mädchen, dessen Pferdeschwanz von einem geschnitzten weißen Schmetterling zusammengehalten wurde. An den Tagen, an denen sie die Mahlzeiten zubereitete, gab es Sachen, die Homan noch nie gesehen hatte: nach Moschus riechende braune Suppe, Reis mit Gemüse und gummiartigen weißen Würfeln, gebratene Bananen. Ihre köstlichen Speisen waren eine von vielen Annehmlichkeiten an diesem Ort, und bisher hatte noch niemand Andeutungen gemacht, dass Homan von hier weggehen sollte.
Weißer Schmetterling drehte sich auf dem Gipfel des Hügels zu ihnen um, bewegte den Mund und sah die beiden Jungen dabei an. Offenbar sprach sie über Homan, denn ihr Blick huschte immer wieder zu seinem Gesicht.Aber er hatte keine Angst. Unter diesen Menschen herrschte eine Atmosphäre, die er noch nirgendwo erlebt hatte – sie gingen mit ungezwungener Toleranz miteinander um, auch wenn sie im Gemeinschaftsraum im Schneidersitz auf dicken Kissen auf dem Boden hockten und die Hände wie zum Gebet zusammendrückten. Die meisten Neuankömmlinge zogen sehr bald
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