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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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und zeigten ihm die offenen Handflächen, und als er ebenfalls die Finger ausstreckte und spreizte, bückten sie sich und schüttelten ihm beide die Hand, als wäre er eine bedeutsame Person.
    Einige Zeit später kam Queen Long Dress noch einmal auf ihn zu. Als er den Marmeladekochern half, Etiketten auf die Gläser zu kleben, setzte sie sich zu ihm. Sie zeigte auf die Etiketten, auf denen eine Sonne abgebildet war und die schwarzen Zeichen standen, die er als Buchstaben erkannte, und sah ihn fragend an. Er fühlte sich an die Tests im Knast erinnert, wo sie ihm Bauklötze und Stoppuhren vorgelegt hatten und er nicht verstehen konnte, was sie von ihm wollten. In diesem Test hatte er versagt, und er würde nun wieder versagen. Er fuhr unbeirrt mit seiner Arbeit fort, und Queen Long Dress ließ ihn allein.
    Jetzt, nachdem sich Homan dem Trommler gegenüber an den Tisch gesetzt hatte, ließen sich King Orange und Queen Long Dress rechts und links neben ihm nieder. Der Trommler legte ein Buch auf den Tisch.
    King Orange schob das Buch vor Homan und schlug es auf. Homan musterte erst ihn, dann den Trommler, der auf die aufgeschlagene Seite zeigte. Homan blickte von einem zum anderen, bis der Trommler seine Hand nahm und seinen Zeigefinger unter eine Buchstabenlinie legte. Die Schrift erinnerte an die Fußspuren von Vögeln mit ungleichen Krallen. Hilfesuchend sah Homan den Trommler an, der die Schrift nicht aus den Augen ließ und die Lippen bewegte. Homan nahm zunächst an, dass er von seinen Lippen lesen sollte, doch dann dämmerte es ihm: Er will, dass ich die Schrift lese. Er wandte sich anQueen Long Dress, die ihm mit Gesten klarmachte, dass er auf die Seite schauen sollte. Diesen Test würde er ganz bestimmt nicht bestehen, aber wenn er zeigte, dass er sich anstrengte, würden sie ihn vielleicht weiterhin hier wohnen lassen. Also zog er die Augenbrauen zusammen und betrachtete konzentriert die Schrift – er gab alles, was er hatte. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, und seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, obwohl er sich jeden Tag nichts mehr als Vergessen wünschte. Er konnte nicht anders, solange er auf diese Vogelspuren starren musste. Er verließ dieses Kapitel seines Lebens und flog Jahre zurück in seiner Erinnerung.
    Es geschah an einem Tag, an dem der Mais hoch genug war, dass man sich zwischen den Halmen verstecken konnte. Er und das schöne Mädchen schlichen in das Feld, und dort – geschützt vor allen Regeln und Wärtern – liefen sie Hand in Hand die Reihen entlang, lachten und fühlten sich frei. Schließlich machten sie halt. Umgeben vom hohen Mais bewegten sie sich aufeinander zu und kamen sich näher, als sie es im Büro des Rotschopfs konnten. Und sie küssten sich. Es war für beide ein Kuss, wie sie ihn noch nie erlebt hatten – tief und lang. Ihre Lippen fühlten sich voll an und schmeckten süß. Er spürte, wie sein Körper schwach und stark zugleich wurde – seine Empfindungen rasten in verschiedene Richtungen, während er das Mädchen an sich drückte und sie ihn fest umarmte. Am liebsten hätte er sie geküsst, bis die Sonne unter- und der Mond aufging, und er wünschte sich, mit ihr im Maisfeld bleiben zu können, bis der Sommer zum Winter wurde.
    Und dann passierte es. Als sie ihre Münder voneinander lösten, um sich in die Augen zu schauen, flog ein Vogel über sie hinweg und ließ eine rote Feder fallen. Sie sahen,wie sie zu ihnen herabschwebte und zwischen ihnen landete. Instinktiv drückten sie sich aneinander, um sie aufzufangen. Sie lachten, weil sie beide dieselbe Idee gehabt hatten, und in seiner Glückseligkeit nahm Homan die Feder in die Hand und tat das, was er nie wieder tun wollte, seit es ihn in den Knast gebracht hatte. Er benutzte seinen Mund, um zu sprechen.
    Feh eh .
    Er hatte nicht damit gerechnet, überhaupt etwas herauszubringen, und erst recht nicht damit, dass das schöne Mädchen verstand, was er meinte. Er wusste, dass sie selbst auch nicht sprach. Doch zu seiner Überraschung betrachtete sie die Feder in seiner Hand, und in ihren Augen blitzte Verstehen auf. Dann nahm sie die Feder, sah ihm tief in die Augen, legte die Schneidezähne auf die Unterlippe und hob sein Handgelenk an ihren Mund, damit er ihren Atem spürte: Feh . Dann presste sie die Zunge an die oberen Zähne: de .
    Er sah sie erstaunt an, sie ihn hoffnungsvoll. Und ohne nachzudenken, legte er die Finger an ihren Hals und berührte die Stelle unter dem Kehlkopf. Als sie noch

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