Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Würde ihr Baby auch auf den Bildschirm schauen? Blättere die Seiten um, ermahnte sich Lynnie, und sie bemühte sich, das Leben des Kindes so zu sehen, wie es jetzt sein könnte. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan, doch jetzt machte sie sich Gedanken darüber. War das Kind schon so groß wie Lynnie? Sah es ihr ähnlich? Lebte die Kleine bei der alten Lady oder bei anderen Leuten? Mochte sie Gerüche und Umarmungen so sehr wie ihre Mutter? Konnte sie sprechen wie alle anderen?
Und Buddy … Buddy . Würde er sie sehen? Bestimmt.Er musste sie sehen. Er war schon so lange weg – das konnte nicht seine eigene Entscheidung sein. Vielleicht hatten sie ihn ins Gefängnis gesperrt. Oder er war bei einem Unwetter auf einer verlassenen Insel gestrandet. Alles würde sich ändern, wenn er heute Abend fernsehen konnte. Er würde aus dem Gefängnis ausbrechen, wie es die Guten im Fernsehen taten, wenn ein böser Sheriff sie hinter Schloss und Riegel gebracht hatte. Er würde zurückkommen und sie in die Arme schließen.
Als sie kurz vor sechs Uhr aus dem Speisesaal kamen, vermutete Lynnie, dass der Abend trotz allem verlaufen würde wie jeder andere. Suzette schaltete den Fernseher ein, um ihre Lieblingssendung, Gilligans Island , zu sehen. Die Bewohner von A-3 hatten ihre seit Jahren angestammten Plätze eingenommen. Lynnie ging zu ihrer Bank, und Doreen ließ sie wie immer rechts neben ihr nieder.
Doreen neigte sich zu ihr und flüsterte ihr zu, dass sich heute im Verwaltungsbüro seltsame Dinge abgespielt hatten. Lynnie sah sie an, doch als Doreen Luft holte, um ihr alles zu erzählen, entdeckte sie aus den Augenwinkeln, dass Kate hereinkam. Doreen entging das auch nicht, und beide beobachteten, wie Kate zu Suzette ging und nach einem kurzen Wortwechsel, der Suzette offenbar sprachlos gemacht hatte, den Fernseher auf einen anderen Kanal umstellte. Dann ging Kate zurück, stellte sich hinter Suzettes Stuhl und warf einen Blick auf Lynnie.
Zuerst stöhnten alle Anwesenden. Gilligan war eine der wenigen Serien, die sowohl die Bewohner als auch die Pfleger mochten. Noch schlimmer war, dass Kate zum Nachrichtensender gewechselt hatte, der langweiliger war als eine kahle Wand. Das Bild zeigte John-Michael Malone an einem Schreibtisch – plötzlich nahm Lynnie nichts mehr um sich herum wahr. »Wahrscheinlich sindsie jetzt kurz davor, umzuschalten«, sprach John-Michael seine Zuschauer direkt an. »Aber ich bitte Sie, bei uns zu bleiben und sich den folgenden Bericht anzusehen. Es ist wichtig, dass Sie die Augen nicht vor Amerikas Schande verschließen.«
Als der Film anlief, hörte das Murren der Insassen abrupt auf, und einige schnappten vernehmlich nach Luft. Da waren das Tor ihrer Schule und Albert, der wild gestikulierte, um das Auto, in dem der Kameramann saß, auf einen bestimmten Platz zu winken. Als Nächstes sah man die abgeernteten Felder, das Gewächshaus, das Verwaltungsgebäude. Die Uhr.
»Das sind wir!«, schrie Barbara.
»Der Knast in bunten Bildern!«, fiel Lourdes ein.
Lynnies Herz pochte heftig, während sie ihre Welt betrachtete. Die Krankenstation mit Marcus in einer Zwangsjacke. Die Turnhalle mit dem unebenen Boden und den Spinnweben an den Geräten. Z-1 mit Christopher, der sich vor- und zurückwiegte, und Timmy, der sich drehte wie ein Kreisel. Ein Eingang zum Tunnel. Schwimmende Fäkalien auf dem Boden einer Toilette.
Und plötzlich: Lynnie!
Die anderen grölten: »Lynnie!« Loretta schlug ihr auf den Rücken.
Was, wenn Clarence und Smokes das sahen? Die nackte Angst packte Lynnie.
»Leben Sie hier?«, ertönte John-Michaels Stimme.
Die blond gelockte Lynnie auf dem Bildschirm nickte.
Doreen stieß sie in die Seite. »Du bist ein Star.«
Lourdes meinte: »Lynnie kommt gut in Großaufnahme.«
Der unsichtbare John-Michael stellte die zweite Frage: »Wenn Sie jetzt sofort durch das Tor hinausgehen könnten und nie wieder zurück müssten, würden Sie es tun?«
Die Fernseh-Lynnie zögerte und schaute auf etwas, was die Kamera nicht erfasste – auf Kate, wie sich Lynnie erinnerte. Dann nickte sie.
Alle johlten anerkennend.
Im Zimmer der Pfleger klingelte das Telefon. »Oh, sei still!«, rief Suzette.
Die Kamera schwenkte weg von Lynnie. Andere Teile der Schule wurden gezeigt. Lynnie konnte sich nicht mehr konzentrieren, da mit einem Mal auch die Telefone in den Nachbarcottages – in der gesamten Schule – läuteten. Im Gemeinschaftsraum herrschte Aufruhr, alle schrien
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