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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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sich immer, wenn er daran dachte, wie er aus dem Fenster der alten Lady gesprungen, vom Fluss mitgerissen, in der Höhle zusammengeschlagen worden war. Und es loderte in ihm, sobald er am Morgen das schöne Mädchen und die Kleine sah – auch wenn sie jetzt nicht mehr waren als schemenhafte Gestalten, die nicht mehr zusammen waren und ihm selten länger als einen Wimpernschlag vor Augen standen. Das Gefühl tobte dann in seinem Körper; er schlug die Hände vors Gesicht und hoffte, dass niemand – insbesondere nicht er selbst – ahnte, dass der Mann von damals noch existierte. Und er dachte: Wie konntest duzulassen, dass so etwas passiert, Blödmann? Solltest du nicht besser sein als dein nichtsnutziger Daddy? Nur gut, dass sie nicht wissen, wer du bist! Dieses Gefühl versengte ihn so sehr, dass er alles, was vorher war, vergessen wollte. Und jeden Abend nach dem Essen tat er etwas, um das Vergessen herbeizuführen.
    An dem Tag, an dem sie wegen des Ersatzteils in die Stadt fuhren, quälte er sich nicht mit Erinnerungen. Im Gegenteil – er bewunderte die gigantische rote Brücke, die viel majestätischer war als die doppelstöckige, über die er mit Sam in die Stadt gekommen war. Durch den Nebel erhaschte er hin und wieder einen Blick auf das Wasser. Und als sie am Ende der Brücke nach rechts abbogen und neben dem weiten, offenen Wasser fuhren, überkam ihn Ehrfurcht. Mit offenem Mund starrte er aus dem Wagenfenster, drückte die Hände an die Scheibe und gab sich der Aussicht hin. Dies war also die Stelle, die er von Sams Haus aus gesehen hatte. Das Wasser, das das schöne Mädchen gezeichnet hatte. Von Zeit zu Zeit hatte er dieses Bild, das er im Knast unter dem Heu versteckt hielt, hervorgezogen und betrachtet. Endlich war er hier: an dem Meer, das aus Tränen entstanden war.
    Den anderen im Auto entging seine Faszination nicht. Sie stellten das Auto vor einem Geschäft ab, überquerten die Straße und führten ihn eine Treppe hinunter zu einem Strand. Homan blieb eine Weile stehen und atmete den salzigen Geruch ein. Ein kühler Wind wehte, als er eine eigene Gebärde für diesen Ort kreierte und mit den Händen vollzog: endlich Meer. Dann fing er an zu rennen und blieb erst stehen, als ihm das Wasser bis zu den Knien reichte. Er schöpfte eine Handvoll ab und steckte seine Zunge hinein. Es schmeckte wirklich wie Tränen. Und er ließ die Erinnerungen zu: an ihre Lippen, die seine berührten, an ihren Körper in seinen Armen. DiesesMal quälte ihn nicht das namenlose Gefühl. Er empfand nur Sehnsucht, die sich so weit erstreckte wie das Meer. Tränen traten ihm in die Augen.
    Die Sonne stand hoch über den Feldern. Er lüftete den Strohhut und wischte den Schweiß von der Stirn. Er freute sich, die Kinder zu sehen, die das Mittagessen in Schalen auf den Feldern verteilten. Doch das Mädchen, das zu ihnen kam, hatte nur drei Schalen dabei, die es Weißem Schmetterling und den beiden Jungs gab. Homan hingegen forderte sie auf, mit zum Haus zu kommen. Noch immer unausgeschlafen trottete Homan hinter ihr her.
    Als das Mädchen ihn ins Büro brachte, erhoben sich King Orange und Queen Long Dress von ihren Schreibtischen, um ihn lächelnd zu begrüßen. Der Trommler von letzter Nacht saß an dem Tisch in der Ecke, rauchte eine Zigarette und nickte Homan zu. Das Mädchen ging wieder, und King Orange zeigte auf einen Stuhl. Während Homan Platz nahm, schloss Queen Long Dress die Tür.
    Homan hatte nie viel mit King Orange und Queen Long Dress zu tun gehabt. Sie saßen zwar beim Frühstück und Abendessen an demselben großen Tisch wie er und nahmen an den täglichen Sitzungen auf den Kissen teil, aber die meiste Zeit hielten sie sich im Büro auf – King Orange am Telefon, Queen Long Dress mit der Brille auf der Nase. Sie waren die Bosse auf dieser Farm und ähnelten in dieser Hinsicht dem Direktor im Knast und seiner Helferin. Allerdings waren King Orange und Queen Long Dress ein Paar – sie trugen dieselben Ringe. King Orange spielte oft mit den Kindern und nahm sie huckepack. Queen Long Dress setzte sich zu den Leuten, die einen niedergeschlagenen Eindruck machten, und legte ihnen die Hand auf den Arm. Als sich Homan an seinem ersten Tag in diesem Haus auf der Matratze am Bodenzusammengerollt und die Fäuste geballt hatte, waren King Orange und Queen Long Dress zu ihm gekommen. Augenscheinlich waren sie schon über seine Taubheit im Bilde, denn sie bewegten die Lippen nicht. Sie deuteten nur auf seine Fäuste

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