Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Schluchzen. Ihr dunkles Haar war so lockig wie Lynnies. Von Eva hatte Kateerfahren, dass das Kind – nein –, dass Julia auch Locken hatte. Würde Hannah ihre Nichte erkennen, wenn sie zufällig in die Bank käme, in der Hannah derzeit am Schalter saß, oder ihr in irgendeiner anderen Arbeitsstelle über den Weg liefe? Die siebenundzwanzigjährige Hannah betrieb seit Jahren »Job-hopping«, wie sie es nannte. Unwahrscheinlich. Hannah wusste nicht einmal, dass sie eine Nichte hatte.
»Ich habe nie jemandem erzählt, dass ich eine Schwester habe«, gestand Hannah. »Aber ich erinnere mich an so vieles.« Sie lächelte. »Wir hatten viel Spaß. Zum Beispiel beim Kaugummispiel, bei dem Lynnie immer meine Blasen zum Platzen brachte. Wir hatten unsere eigene Version vom Versteckspiel. Sie liebte es, an feuchten Waschlappen zu saugen und sich zu verkleiden. Und wir haben gern gesungen. Am meisten begeisterte sie das Lied ›Atisket, a-tasket‹. Ich stand auf dem Tisch und sang mir die Seele aus dem Leib, während sie auf dem Bett auf- und ab hüpfte.« Sie fing an zu singen, verstummte aber rasch wieder.
Ein eisiger Wind fegte über ein Feld. Der Gouverneur hatte den Farmbetrieb geschlossen – diese Felder würden nie wieder einen Maishalm sehen.
Hannah seufzte. »Meine Eltern haben nie über sie gesprochen. Wir sind sogar umgezogen, damit meine jüngeren Brüder nicht durch eine unbedachte Äußerung der Nachbarn von ihr erfuhren. Ist das zu fassen? Und können Sie glauben, dass ich das Verhalten unserer Eltern all die Jahre nicht in Frage gestellt habe? Ich hab’s einfach akzeptiert.« Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie. »Doch, ich habe meine Mutter zweimal gefragt, warum wir das getan haben. Das erste Mal nach der Geburt der Zwillinge, und sie behauptete, wir würden Lynnie nur durcheinanderbringen, wenn wir sie besuchen. Beim zweitenMal war ich schon im College, und sie antwortete, mein Vater wollte uns die Schande ersparen. Und die ganze Zeit musste ich versprechen, mit meinen Brüdern nicht über Lynnie zu reden.«
»Weiß jemand aus Ihrer Familie, dass Sie hier sind?«
»Ich habe meine Mutter angerufen und ihr von dem Fernsehbeitrag erzählt. Sie sagte – «, Hanna wischte sich über die Augen, » – fahr hin und schildere mir später, was du gesehen hast. Danach werde ich mir überlegen, ob ich mit deinen Brüdern und deinem Vater darüber spreche.«
»Deshalb sind Sie hier? Als Abgesandte der Familie?«
Hannah blies in ihre nackten Hände. Sie hatte nicht einmal den Mantel zugeknöpft, als ob ihr das eigene Unbehagen einerlei wäre. »Nein. Ich tue das für mich. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es ist, eine Schwester zu haben, über die kein Mensch spricht.«
»Es tut mir leid«, sagte Kate. Sie verschwieg Hannah, dass manche Insassen Besuch von ihren Familien bekamen. Nicht viele – und gewöhnlich waren die Geschwister peinlich berührt, sobald sie ins Teenageralter kamen. Warum sollte sie Hannah sagen, dass sie sich – vielleicht – anders fühlen würde, wenn sich ihre Eltern nicht nach den Ratschlägen der Ärzte gerichtet hätten? Und warum sollte sie ihr erzählen, dass die einsamen Insassen traurig nach ihren eigenen Angehörigen Ausschau hielten, wenn andere Besuch bekamen? Jedes Mal, wenn sich eine Besucherin der A-3 näherte, saßen Barbara, Gina und Betty Lou am Fenster und riefen jämmerlich: »Mommy?«
Nein, darüber würde sie nicht mit Hannah sprechen – genauso wenig wie über die Ereignisse vor fünf Jahren.
»Da sind wir«, verkündete Kate und öffnete die Tür zum Bürogebäude.
Hannah schaute Kate an. »Ich muss gestehen, ich habe keine Ahnung, was ich zu ihr sagen soll.«
Kate legte die Hände auf Hannahs Schultern. »Ich glaube nicht, dass Sie irgendetwas sagen müssen.« Sie lächelte.
Lynnie saß an Kates Schreibtisch und zeichnete. Als die Tür aufging, hob sie den Kopf und sah erst Kate, dann die Fremde an.
»Lynnie …« Kate hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne, »das ist deine Schwester.«
Lynnie sah genauer hin. »Nah-nah«, flüsterte sie.
Hannah nickte und biss sich auf die Lippe.
Lynnie sprang auf und rief: »Nah-nah!«
»Was jetzt?«, fragte Hannah zu Kate gewandt. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Aber Lynnie umarmte ihre Schwester bereits. Langsam hob Hannah die Arme und schloss sie um Lynnie. Hannah schluchzte, Lynnie lachte vor Freude.
Der Besuch war kurz. Seit Onkel Luke um seinen Job fürchten musste, durften die
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