Die Geschichte vom neidischen Dorle
zusammenlief. Dorle öffnete die Tüte und hielt sie vor sich hin. Abwechselnd griffen sie hinein.
„Hm!“ machte Walter und langte in die Tüte, obwohl er sich gerade einen Bonbon herausgenommen hatte. „Hm, hm! Himbeergeschmack. Das andere schmeckt mir besser!“ Und schon wieder waren seine Finger in der Tüte, in der runde und längliche, rote und grüne, gelbe und braune Bonbons lagen,
Dorle wurde angst und bange. Der aß ihr ja die ganze Tüte leer! Sie hatte erst zwei Bonbons gegessen. Walter verschlang bestimmt schon das sechste. Man kam überhaupt nicht in den Genuß des Lutschens.
Sie begann jetzt die Bonbons ebenso zu zerkauen und
hinunterzuschlucken wie Walter. Je mehr sie aß, um so weniger schmeckten sie ihr. Sie hatte ein unangenehm klebriges Gefühl im Munde. Im Halse kratzte es ein bißchen. Der Magen schien auch nicht recht einverstanden mit dem vielen Zuckerzeug und den verschiedenen Füllungen.
Walter störte sich an nichts. Er aß und aß und machte „hm“ und „oho“. Er sagte „Himbeergeschmack“ oder „Zitrone“ oder „Kakao“ und schmatzte ganz fürchterlich. Dazwischen erklärte er Dorle: „War ganz richtig, daß du dem Heino kein Geld gegeben hast. Der spielt sich auf, wegen einer dämlichen Lampenscheibe — ach, da das Rote will ich!“
Vielleicht wird ihm bald übel, dachte Dorle. Dann muß er aufhören, und ich behalte noch ein paar Bonbons übrig.
Ach ja, wenn ihm nur schlecht würde, diesem Vielfraß! Aber Walter wurde nicht übel. Er konnte unglaublich viel vertragen. Dorle hatte den ganzen Mund voll zerkaute Bonbons. Am liebsten hätte sie alles ausgespuckt. Doch sie schämte sich vor Walter. Mehr als sie sollte er auch nicht essen! So schwer es ihr fiel — sie würgte den süßen Brei in sich hinein.
Und da war die Tüte leer. Dorle wollte sie erleichtert wegwerfen, aber Walter nahm sie ihr aus der Hand. Er stülpte sie um und ließ die Bonbonkrümel auf seine Handfläche fallen.
„Von da leckte er sie mit der Zunge ab. Er hatte eine schrecklich lange Zunge, fand Dorle.
Die Tüte faltete Walter fein säuberlich zusammen und steckte sie in seine Jackentasche.
Eine Uhr schlug dumpf halb fünf. „Oi!“ rief Walter erschrocken. „Jetzt hat meine Mutter Feierabend! Und ich sollte sie vom Betrieb abholen; sie will mir neue Schuhe kaufen ..."
Bauchweh
Dorle rannte ein Stück neben Walter her. Die Bücher in ihren Schulranzen klapperten durcheinander. Dann mußte Walter abbiegen, um seine Mutter wenigstens auf dem Heimweg nicht zu verfehlen. Dorle verlangsamte ihren Schritt. Sie verspürte ein häßliches Kratzen im Halse und ein seltsames Rumoren im Magen. Richtig übel war ihr, um die Wahrheit zu sagen! In ihrer Straße waren zum Glück keine Kinder zu sehen. Wenn die Eltern nun fragten, ob sie Peter das Geld gegeben hatte? Vati war bestimmt schon zu Hause. Sie lief noch langsamer. Was sollte sie denn — oh — ihr war ja so schlecht — oh, oh! Was sollte sie denn sagen? Oh, aua — der Bauch! War das schlimm!
Endlich erreichte sie die Ecke beim Gemüsegeschäft. Im Schaufenster waren Zitronen und Apfelsinen, Datteln und Feigen, Erdnüsse und Rotkohl ausgestellt. Quer über das Schaufenster war eine Schnur gespannt, an der gelbe Bananen hingen. Dorle konnte gar nicht hingucken. Puh — nur nichts Eßbares, bloß nichts Süßes ansehen müssen.
„He!“ schrie jemand gellend. Dorle fuhr zusammen. Peter Nolte raste mit seinem neuen Roller auf sie zu. Er stoppte jäh, indem er mit dem Absatz auf die Bremse trat, die am hinteren Schutzblech angebracht war. „Hast wohl nachsitzen müssen?“ fragte er höhnisch.
Dorle ging mit bleichem Gesicht an ihm vorbei, ohne zu ant worten. Peter blieb ein Stückchen hinter ihr und schrie, daß es durch die Straße hallte: „Heino kauft mir ’ne neue Scheibe für meine Lampe, Neidhammel!“ Dann brauste er davon. Dorle verzog das Gesicht vor Schreck. Wenn Vati das hörte! Doch der Vater hatte zum Glück nichts gehört. Als Dorle so blaß und mit zitternden Knien vor ihm stand, fragte er besorgt: „Was ist dir, Kind?“
„Mir ist ja so schlecht!“ jammerte Dorle. „Sooo schlecht, Vatilein!“ Sie ließ ihren Schulranzen einfach in der Diele auf den Boden fallen und schleppte sich ins Wohnzimmer. In ihrem Magen drehte sich alles um und um. Die Bonbons schienen wie Kieselsteine im Bauch herumzukollern. Schlimmer konnte es dem Wolf in dem Märchen vom Rotkäppchen auch nicht zumute gewesen sein, als die Steine
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