Die Geschichte vom neidischen Dorle
„Du hast mich so finster angesehen, als ich das Geld für die Scheibe gegeben habe.“ Als wollte sie das beweisen, hob sie ihr neues Geldtäschchen in die Höhe. Rot wie eine reife Tomate leuchtete es in ihren Hand.
In diesem Augenblick kam Heino vorüber. „Finster angesehen?“ rief er und grinste unverschämt. „Zeig mal her!“ Er nahm Angelika das rote Täschchen aus der Hand. „Neu, was?“ fragte er.
„Das siehst du doch“, entgegnete Angelika. Sie nickte dabei so heftig mit dem Kopf, daß ihre kurzen Zöpfe lustig wackelten. Heino tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Köpfchen! Neu, Menschenskind! Dorle kann doch nichts Neues sehen. Denk mal nach! Traudes Kleid, Monikas Puppe, Peters Roller, mein Federkasten! Alle, die was Neues haben, schielt sie böse an. Und da wunderst du dich?“
„Weil sie ein Neidhammel ist!“ schrie Helmut, der auf dem Zeigestock wie auf einem Steckenpferd durchs Zimmer ritt. Er
war ein richtiger Lausejunge. Im Takt seines Galopps rief er: „Neid—ham—mel! Neid—ham—mel!“
„Recht hat er jedenfalls!“ stellte Heino fest. „Bist ein richtiger Neidhammel, Dorle!“
Dorle schoß auf Heino zu, und — patsch! — ehe er sich versah, klebte ihm die schönste Ohrfeige im Gesicht.
„Hap!“ machte Heino und verdrehte die Augen vor Verwunderung. Das war ihm noch nicht passiert. Die anderen Kinder standen starr. Sie hatte es gewagt, dem starken Heino ins Gesicht zu schlagen! Nur Helmut schrie: „Reiß ihr die Haare aus! Reiß ihr die Haare aus!“
Obwohl es Heino in den Fingern juckte, tat er Helmut den Ge-fallen nicht. Er sagte nur leise: „Na, warte ab. Darüber sprechen wir noch, Dorle!“
Diese bekam es mit der Angst zu tun. Warum schrie und boxte er nicht, wie es Jungen sonst machen? Was mochte er Vorhaben?
Eine Tüte Bonbons
Zwischen vier und halb fünf Uhr verließen die meisten Kinder den Schülerhort. Eine Viertelstunde später konnte man dann vielen von ihnen wieder auf dem großen Spielplatz im nahegelegenen Lilien-Park oder auf den Straßen rund um die 12. Oberschule begegnen. Auch Dorle Klöhner war meist unter ihnen zu finden.
Als Dorle heute auf die Straße trat, verlangte es sie freilich nicht danach, im Park oder sonstwo mit einer Schar aus ihrer Klasse und der Hortgruppe zusammenzutreffen. Helmut und Angelika hatten die blöde Rollergeschichte tuschelnd im Hort herumgetratscht, und auf dem Spielplatz warteten gewiß schon Heino und seine Anhänger, um mit Gehässigkeiten über sie herzufallen.
Ach, die! Wenn die wüßten, was sie jetzt vorhatte, würden sie bestimmt vor Neid platzen.
„Komm mit — da lang!“ Dorle packte Walter am Arm und zog den Erstaunten mit sich fort. Das schlechte Gewissen plagte sie tüchtig, als sie mit dem Freund vor einem HO-Geschäft stand. Durfte sie das Geld für die Lampenscheibe vernaschen? Sie hatte der Mutti doch fest versprochen, Peter die Mark zu geben. Aber da wußte sie ja nicht, daß die anderen sammeln würden! Also konnte sie jetzt mit dem Geld machen, was sie wollte. Jawohl — sie durfte es vernaschen! Es war ja ihr Spargeld. Und wenn Brita eine ganze Tüte voll Bonbons hatte, dann konnte sie auch eine haben. Peter konnte mit seinem Roller fahren, auch wenn die Lampenscheibe fehlte. Und außer-dem bekam er ja eine neue Scheibe. „Wir kaufen uns jetzt Bonbons“, erklärte sie Walter entschlossen.
„Hast du denn Geld?“ fragte er.
„Klar!“ Dorle sah sich noch einmal um. Dann betrat sie den Laden. Walter wartete draußen.
„Für eine Mark Bonbons. Gefüllte!“ verlangte Dorle von der jungen Verkäuferin, die hinter dem Ladentisch Stand.
„Von welcher Sorte denn?“
„Na, gefüllte eben. Von jeder Sorte!“ forderte Dorle nicht sehr höflich.
Die Verkäuferin wog ab. Dorle warf die beiden Fünfzigpfennig-Stücke auf eine Glasplatte, die auf dem Ladentisch lag. Hell klingend sprangen die runden Geldstücke auf der Platte hin und her, bevor sie zur Ruhe kamen.
„Danke schön“, sagte die Verkäuferin, legte die große Tüte auf den Ladentisch und das Geld in die Kasse. Dorle sagte „Bitte“ und stürmte ohne Gruß aus dem Laden.
Dorle und Walter gingen auf die andere Straßenseite. Dort türmten sich in einer Häuserlücke mehrere Ziegelstapel. Hinter einem davon nahmen sie Deckung. „Erzähl aber keinem was davon, du — das mußt du mir versprechen“, flüsterte sie. Walter nickte nur heftig. Er konnte gar nicht so schnell schlucken, wie ihm das Wasser im Munde
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