Die Geschichte vom neidischen Dorle
die schräge Bankplatte.
Traude saß noch nicht vor ihr. Sie stand mit Heino, Monika und einigen anderen Schülerinnen zusammen und ließ ihr Herzchenkleid bewundern. — Diese eingebildete Gans!
Auf der anderen Seite des Ganges, der das Klassenzimmer in zwei Hälften teilte, saß Walter Liesegang, legte sich seine Bücher zurecht und kümmerte sich nicht um das, was im Klassenzimmer vorging. Walter war ein guter Schüler. Manche sagten, er sei ein Feigling, weil er nie an den wilden Spielen der Jungen teilnahm. Dorle mochte ihn gut leiden.
„Du“, sagte Walter und beugte sich zu Dorle hinüber. „Der Heino hat erzählt, daß du gestern den kleinen Peter umgefahren hast, weil du neidisch auf seinen neuen Roller warst.“ „Ach, der Spinner“, schimpfte Dorle und zupfte verlegen an dem blauen Halstuch.
„Ich dachte mir schon, daß der Heino wieder mal angibt. Hatte denn Peter einen neuen Roller?“ fragte Walter.
Dorle nickte nur.
„Na ja“, Walter zuckte die Schultern. „Wird ja kein besonderer Roller gewesen sein.“
Dorle wollte sagen, daß es wirklich ein sehr schöner Roller sei. Aber wie kam sie dazu, Peters Roller zu loben? Sehr böse sah sie aus. Es war auch wahrhaftig kein Vergnügen, mit „Neidhammel“ in der Schule begrüßt zu werden. Einige Jungen und Mädchen sahen sie schief an und tuschelten miteinander. Heino hatte also alles ausgequatscht! Das sah ihm ähnlich. Von ihm konnte man nichts anderes erwarten.
„Und die Traude hat erzählt, du wärst neidisch auf ihr neues Kleid. Stimmt das?“ forschte Walter weiter.
Dorle wurde rot. So eine Gehässigkeit von der Traude! Was hatte sie ihr denn überhaupt getan? Sie hatte gesagt, daß das Kleid zipfelte. Was war schon dabei? Traude sollte sich ja nicht so haben!
„Ich bin nicht neidisch auf so ein ärmliches Kleid“, antwortete sie Walter.
„Das wäre ja auch!“ flüsterte ihr Walter zu. „Mir gefällt es jedenfalls nicht. .
Ehe sie Walter antworten konnte, klingelte es. Die Kinder eilten zu ihren Plätzen. Als Heino an Dorle vorbeilief, zischte er ihr zu: „Neidhammel!“
Dieser häßliche Kerl mit seinem breiten Mund!
Traude sagte flüchtig: „Guten Morgen“, als sie sich auf ihren Platz vor Dorle setzte. Dorle antwortete ihr nicht.
Die Geldsammlung
Fräulein Fröhlich trat ein. Die Lehrerin war sehr jung. Sie hatte lange blonde Haare und eine helle Stimme. Alle Kinder gingen gern in ihre Klasse.
Heute paßte Dorle im Unterricht gar nicht auf. Ständig hatte sie Traudes neues Kleid vor Augen. Der Neid wuchs in ihr, wie die Flamme eines Feuerchens, in das man Holzwolle wirft. Nicht nur ein Kleid, wie es Traude besaß, wollte sie haben! Auch einen Roller mit großen Gummireifen! Und Monikas Puppe war eben doch schöner als ihre. Was hatte sie denn für eine Puppe? Diesen alten Balg mit den Borstenhaaren und der platten Nase!
Dorle brachte es einfach nicht fertig, ihre Blicke von dem Herzchenmuster auf Traudes Kleid zu reißen. Als Fräulein Fröhlich Dorle aufrief, konnte sie der Lehrerin keine Antwort geben. Dorle hatte überhaupt nicht auf das gehört, was sie sagte.
Die Lehrerin zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Dorle war eine ihrer besten Schülerinnen. Nur manchmal — so wie jetzt — schien sie ihr zerstreut und von irgend etwas abgelenkt. „Setz dich“, sagte Fräulein Fröhlich. „Und passe bitte besser auf.“ Hinter Dorle kicherte jemand boshaft.
Während der Pause sprach Dorle nur mit Walter, der zu ihr hielt. Viele Kinder hatten gar nicht den Wunsch, mit Dorle zu sprechen. Sie wisperten und warfen Blicke nach ihr. Sicherlich plapperten sie von dem Rollerzusammenstoß oder von Traudes neuem Kleid.
Dorle bedachte Traude und Heino, Monika und Brita mit verächtlichen Blicken. Brita reichte eine große Tüte mit Bonbons herum und bot allen an. Nur ihr nicht! Dabei hätte Dorle sehr gern einen Bonbon gelutscht.
Da fiel ihr ein, daß sie ja die beiden Fünfzigpfennig-Stücke besaß. Sie steckten in der kleinen, abgegriffenen Geldbörse, die sie in der Tasche ihres Rockes bei sich trug. Was Brita hatte, konnte sie auch haben, wenn sie nur wollte!
Plötzlich horchte Dorle auf. Die Stimme Heinos übertönte den Lärm in der Klasse: „Hört mal zu!“ Der Junge kletterte auf den Sitz einer Schulbank und fuchtelte mit den Armen. „Als Dorle gestern dem Peter in seinen Roller gefahren war, ist die Lampenscheibe kaputtgegangen. Wir wollen Geld sammeln und Peter eine neue Scheibe kaufen. Ich setze
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