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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Einfluß von uns und rückt
     zusammen. Was aber noch schlimmer ist: Unser Nachbar Kanada, der in puncto Unabhängigkeit größere Besorgnis denn je zeigt,
     legt uns gegenüber ausgesprochene Feindseligkeit an den Tag.
    In diesem Zusammenhang ist meine Botschaftermission in Paris bei Defromont zu sehen, sagt Anita abschließend. Bedford hat
     schließlich die von mir empfohlene Kehrtwendung vollzogen und eingesehen, wovon ich immer überzeugt war, daß nämlich Defromont
     eine Schlüsselposition einnimmt. Ich bin nun beauftragt, Frieden mit ihm zu schließen …
    Völlig unerwartet schließt Anita mitten im Satz die Augen und schläft ein. Ich stelle ihr eine Frage, sie antwortet nicht.
     Das Licht scheint sie nicht zu stören; im Schein der Lampe ist |169| ihr Gesicht entspannt und ihr Atem gleichmäßig. Das werden also für mich die letzten Worte und der letzte Eindruck von Anita
     sein. Sie hat mich darauf vorbereitet, daß sie morgen früh um sechs abfährt, ohne zu frühstücken; wir werden keine Gelegenheit
     haben, noch einmal miteinander zu sprechen.
    Meine Gefühle sind gemischt, vor allem bin ich unwahrscheinlich erleichtert. Ich begreife, warum die Auslandsinformationen
     aus unseren Zeitungen verschwunden sind. Die kollektive Hysterie, die wir gegenwärtig durchleben, ist ein örtlich begrenztes
     Phänomen, eine Art Hexenjagd, die auf ein ganzes Geschlecht ausgedehnt wurde, eine weitere Äußerung unseres auf die Spitze
     getriebenen Manichäismus. Im Verlauf unserer Geschichte haben wir uns stets dafür entschieden, das Prinzip des Bösen zu personifizieren,
     es zum Sündenbock zu stempeln und zu verfolgen. Heute, unter der Herrschaft Bedfords und ihrer Clique, ist der Mann der Teufel.
     Doch dieser Irrsinn ist in Wahrheit nicht über unsere Grenzen hinausgekommen: Bedford war nicht imstande, ihn zu verbreiten.
    Zugleich halte ich eine recht schmerzliche Rückschau auf mein eigenes Schicksal. Ich hätte es lieber gesehen, wenn Anita mich
     auf eine andere Weise verließe, nicht mit der Aufzählung höchster politischer Verwicklungen, in die sie hineingeraten ist.
     Ich hätte mir einen schlichteren Abschied gewünscht, einige mir angemessenere Worte. Vielleicht bin ich nicht dem Buchstaben
     nach ihr Mann, aber ich war ihr Freund. Eine sechsjährige enge Bindung hätte mit menschlicheren Tönen ausklingen müssen.
    Sicher, ich habe sie eben in höchster Erregung gesehen, aber aus Ungeduld beim Gedanken an die große Rolle, die sie bei Defromont
     spielen wird. Ich kann mir ohne weiteres ausmalen, daß sie danach fiebert, ihren Charme bei dem alten Charmeur spielen zu
     lassen und seiner Verschlagenheit zuvorzukommen. Sie schläft neben mir, aber in Wirklichkeit ist sie nicht mehr da. Sie hat
     sich mit Haut und Haaren einer verlockenden Zukunft verschrieben. Was mich betrifft, wäre es unsinnig, mir etwas vorzumachen:
     ich bin schon im Mülleimer ihrer Biographie gelandet.
     
    Um einzuschlafen, habe ich eine kräftige Dosis Beruhigungsmittel genommen. Eine zu kräftige Dosis. Als ich am nächsten |170| Morgen beim ersten Sirenengeheul aufwache, ist von Anita keine Spur mehr zu sehen. Sie ist weggefahren, ohne mich zu wecken.
     Ich gebe zu, so war es sicher am leichtesten. Zum letzten Mal bewundere ich, wie sie ihr Leben vereinfacht.
    Ich habe einen schweren Kopf, einen bitteren Geschmack im Mund, fühle mich vom Leben angewidert, wogegen eine kalte Dusche
     auch nichts ausrichtet. Ich rasiere mich und gehe in mein Zimmer zurück, um mich anzuziehen; und ich sehe dieses Zimmer an,
     als hätte ich es zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Es ist unvorstellbar leer.
    Ich bin wesentlich früher fertig, als es meinem üblichen Zeitplan entspricht, aber erstaunlicherweise ist Dave auch fertig.
     Wir schlagen gemeinsam den Weg zur Cafeteria ein. Wir gehen zwischen den Baracken nebeneinander her, im Abstand von einem
     Meter und ohne ein Wort zu wechseln, wie üblich. Es ist mild, der wolkenverhangene Himmel hängt tief, die Sonne wird nicht
     hindurchdringen.
    Hundert Meter vom Schloß – erst später wird mir bewußt, daß er so lange braucht, um diesen Entschluß zu fassen – fragt Dave:
     »Ist sie weg?«
    »Ja. Heute früh um sechs.«
    Schweigen. Ich betrachte sein feingeschnittenes Gesicht und die langen schwarzen Wimpern.
    »Kommt sie wieder?« fragt er mit belegter Stimme.
    Mich setzt die Frage und die ihr zugrunde liegende Ahnung in Erstaunen. Seine unruhige Stimme bezieht sich nicht auf seine
    

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