Die geschützten Männer
Rinnsalen durchzieht ihn und unterhöhlt ihn
zum Abhang hin, oder das Wasser stürzt steil herab und überschwemmt stellenweise den Weg. Jedesmal weicht Schuschka aus, weil
sie Wasser nicht leiden kann, und kommt aus dem Trab. Ich versuche, sie unter Kontrolle zu bringen, ohne daß die hinter mir
reitende Jackie darauf reagiert. Im übrigen steigt der Weg zur bewaldeten Seite hin jetzt viel stärker an.
Schritt zu reiten hat noch einen anderen Vorteil: ich kann die Bilanz meiner Beziehungen zu Jackie ziehen. Ein dürftiges Ergebnis.
Zum Zeitpunkt des Zwischenfalls mit Jespersen, als ich gerade abgesessen war, auf sie zuging und den Kopf in Höhe ihrer Stiefel
hatte, hat mein plötzlich aufwallendes, unerwartetes und ungestümes Begehren, das ich damals verspürte, auf sie übergegriffen,
glaube ich. Beim nächsten Ausflug hat sie der zweideutigen »Aussprache«, die ich mit Pussy hatte, rücksichtslos und brutal
ein Ende gesetzt. Und an dem Sonntag schließlich, der der letzten telefonischen Absage Anitas gefolgt war, hat Jackie mir
während des Ausflugs einen Blick zugeworfen und ein Lächeln angedeutet, beides freundschaftlich und vor den Blicken der anderen
geschickt verborgen.
Kann ich ihr trauen? Wenn Pussy hinausgeworfen wurde, liegt es da nicht nahe, daß nicht Pussy, sondern Jackie Mr. Barrow einen
wahrheitsgetreuen Bericht vom Zwischenfall Jespersen erstattet hat? Eine Denunziation, die ihr sicher das Vertrauen einbrachte,
auf Grund dessen sie heute hier ist. Sollten demnach das Lächeln und der Blick vom vorletzten Sonntag eine Falle sein? Ich
sträube mich, es zu glauben. Dieses Mädchen hat nicht den unbeteiligten Blick der Lügnerin; im Gegenteil, |208| er birgt vieles in sich. Und wenn man so reich ist und das Gesicht außerdem von soviel unverbrauchter Energie zeugt, verstrickt
man sich nicht freiwillig in Hinterhältigkeit. Wenigstens nehme ich das an. Oder ich will es glauben, was auf dasselbe hinausläuft.
Wir kommen an die Wegbiegung, die uns den Blicken Bluevilles entzieht. Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, die Absichten
meiner Eskorte zu sondieren. Ich bringe Schuschka zum Stehen, drehe mich halb in meinem Sattel um und lasse, die rechte Hand
auf die Kruppe der Stute gestützt, Jackie herankommen. Das dauert höchstens zwei Sekunden, doch die genügen mir, sie von Kopf
bis Fuß zu mustern und sie zu begutachten, während sie sich mir nähert. Ein hübsches und gesundes Mädchen mit runden Schultern,
festen Brüsten, vollem Gesicht, kurzgeschnittenen blonden Haaren und Augen, die ich für blau gehalten hatte, die aber grau
sind: heute fällt mir diese Farbe auf, vielleicht wegen des düsteren Himmels und der Gewitterstimmung.
In einem Tonfall, der natürlich klingen soll, frage ich: »Wo hin bringen Sie mich?«
»Weiter, Doktor«, sagt sie barsch. »Sie haben mir keine Fragen zu stellen.«
Ich sehe sie an, ihr Gesicht ist wie eine Maske, von der nichts abzulesen ist. In diesem Augenblick macht Schuschka, die meine
Zügel nicht mehr spürt, eine plötzliche Kehrtwendung und will sich mit angelegten Ohren auf den Wallach stürzen. Ich kann
dieser angriffslustigen Bewegung gerade noch zuvorkommen. Das hat aber genügt, daß der Wallach umkehrt und den Abhang hinuntergaloppiert,
ohne daß Jackie ihn gleich aufzuhalten vermag.
Ich warte. Als Jackie atemlos wieder auf meiner Höhe ist, hat sich eine blonde Strähne von ihrem Haar gelöst, ihr Gesicht
ist hochrot, und ihre Augen funkeln. Sie schreit mich wütend an.
»Wenn Schuschka so was noch einmal macht, schieß ich in die Beine!«
»In wessen Beine?« frage ich herausfordernd.
»Doktor«, schreit sie außer sich, »Sie haben mir keine Fragen zu stellen!«
»Trotzdem will ich Ihnen eine stellen!« brülle ich zurück. |209| »Warum haben Sie sich einen Wallach ausgesucht? Sie wissen genau, daß Schuschka Wallache verabscheut!«
»Ich habe ihn mir nicht ausgesucht«, sagt Jackie ruhiger. »Man hat ihn mir gesattelt gebracht.«
Gleichzeitig nimmt sie die Zügel in ihre linke Hand und steckt mit der rechten die blonde Haarsträhne unter das Käppi zurück.
Ich folge dieser Geste zuerst rein mechanisch, doch plötzlich fühle ich mich von ihr berührt: eine so weibliche Geste in einem
Rahmen, der so gar nicht dazu paßt.
Jackie bemerkt meinen Blick, und wie mir scheint, bemerkt sie auch, was in mir vorgeht, denn sie senkt die Augen. Für eine
volle Sekunde tritt ein keineswegs
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